Leseproben

Die Legende  (Kurzgeschichte)

Der mysteriöse Freitod des umstrittenen Bibelforschers Samuel T. Ruth veranlasst mich, seine wichtigste und zugleich seltsamste Arbeit einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Bevor er diese Arbeit 2006 auf eigene Kosten in geringer Auflagenzahl veröffentlichte, galt er in der internationalen Fachwelt bereits als Außenseiter, doch nach diesem Privatdruck erklärten ihn alle Kollegen schlichtweg für unzurechnungsfähig. Im Nachhinein scheint die grausige Art und Weise seines Selbstmordes (blutüberströmt, mit durchgeschnittener Kehle, das Messer von der rechten Hand fest umschlossen, fand man ihn auf einem Hügel unweit seines Hauses) die These seiner geistigen Verwirrtheit zu bestätigen.

Dabei galt er zu Beginn dieses Jahrtausends als vielversprechender Nachwuchswissenschaftler. Mit einer bemerkenswerten Promotion an der Yale University[1] hatte er sich im Jahr 2000 einen Namen gemacht. 2001 wurde er als Mitarbeiter in den erlauchten Kreis der Forschungsgruppe von Emanuel Tov aufgenommen, welche in Israel die Qumran-Schriftrollen untersucht. Jene legendären, 1947 in Felshöhlen am Toten Meer gefundenen Schriftrollen aus der Zeit von 250 v.Chr. bis 70 n.Chr..

Nur einige Monate später verkündete er auf der 7. International Conference on the Dead Sea Scrolls in London am 11. September 2001, einige stark zerstörte Fragmente der Qumran-Rollen auf das 9. vorchristliche Jahrhundert datiert zu haben. Diese wären somit sechshundert Jahre älter als alle bisher bekannten Bibelhandschriften. Es kam zum Eklat, da er die empfindlichen Fragmente ohne Erlaubnis einer Röntgen- sowie Radiokarbon-Untersuchung unterzogen hatte.

Das Team um Emanuel Tov untersuchte alle Fragmente, die Samuel T. Ruth zugeteilt waren, konnte aber für keines das von ihm behauptete Alter verifizieren, weshalb man seinen Auftritt auf der Konferenz bald als einen Fall krankhafter Geltungssucht abtat. Für Samuel T. Ruth bedeutete es natürlich das Aus seiner wissenschaftlichen Karriere. Gelegentlich veröffentlichte er noch Artikel in randständigen Publikationsorganen, doch in der Fachwelt nahm ihn keiner mehr ernst und spätestens nach seinem Privatdruck von 2006 sah jeder in ihm nur noch einen Fall für den Psychiater – auch ich selbst.

Als ich allerdings nun, nach seinem Tod, aufgrund einiger Zufälle die Gelegenheit bekam, seine Privatbibliothek und seine Papiere zu sichten, bin ich auf Indizien gestoßen, die mich an meiner Meinung über Samuel T. Ruth und seinen Privatdruck zweifeln lassen.

In diesem Privatdruck behauptete er, die fraglichen Fragmente nach der Konferenz in London an sich genommen und in mühevoller Arbeit rekonstruiert und entziffert zu haben. Doch als sei dies noch nicht spektakulär genug, bezeichnete er das Fragment als ein Palimpsest, eine Pergament- oder Papyrusseite, die neu überschrieben wurde, nachdem man den ursprünglichen Text abgeschabt hatte.

Die Überschreibung, so Samuel T. Ruth, welche wortgetreu die bekannte Version der Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham (1. Buch Moses, Kapitel 22) widergebe, stamme aus dem ersten Jahrhundert n. Chr., passe also zur Entstehungszeit der übrigen Qumran-Texte, das abgeschabte Pergament jedoch sei eindeutig im neunten Jahrhundert v. Chr. hergestellt worden. Und er, Samuel T. Ruth, habe mittels Fluoreszenzphotographie den ursprünglichen Text wieder lesbar gemacht.

Noch abenteuerlicher mutet schließlich seine Übersetzung dieses ältesten Bibeltextes an, denn der Text stellt die Geschichte der Opferung Isaaks in ketzerischer Weise auf den Kopf.

Die originalen Fragmente waren in den Arbeitsräumen Samuel T. Ruths nicht zu finden. Eine Überprüfung der Datierung mit Methoden der Paläographie ist daher nicht möglich. Auch nicht indirekt über die Übersetzung, denn Samuel T. Ruth hat sich in seinem Privatdruck in bewusster Abgrenzung vom Wissenschaftsbetrieb explizit an eine nicht-wissenschaftliche Leserschaft gewandt und sich bei der Übersetzung die größtmögliche Freiheit erlaubt. Es gibt also keinen einzigen Beweis für die Existenz dieses Palimpsestes gibt. Somit ist jeder Leser gezwungen, sich selbständig, ohne Auslegungshilfe von Experten, ein Bild über die im Folgenden abgedruckte Übersetzung von Samuel T. Ruth zu machen.

 

Dies ist die wahre Geschichte von Isaaks Opferung.

Als Isaak aufwuchs, hörte er unzählige Male aus dem Munde seines Vaters Abraham die Geschichte seiner von einem Engel Gottes verhinderten Opferung. In den Jahren seiner Kindheit empfand er Stolz, Teil einer wahrhaft göttlichen Geschichte zu sein. Erst in der Jugend irritierte ihn hin und wieder ein Zittern in den Augen seines Vaters. Ein Vorwurf lag in diesem Blick Abrahams und auch wenn Isaak nicht verstand, so fühlte er doch: Ich habe kein Recht, hier zu sein, ich bin kein rechtmäßiger Erbe dieses Stammes.

Nach und nach gestand Isaak sich auch die Stumpfheit ein, die er verspürte, wenn sein Vater ihn über Gott unterrichtete. Stumm flatterten die Worte aus des Vaters Mund auf ihn zu und zerfielen wie morsches Pergament vor seiner Stirn zu Staub. Er schämte sich und ahnte eine tiefe Schuld.

Eines Abends, als er in dunklen Gedanken verfangen vor dem Feuer saß, spürte er den Blick des Vaters auf sich ruhen. Und da, als Isaak die Augen aufschlug, da fuhr die Erkenntnis wie ein Zeichen Gottes in ihn: Der Vorwurf im Blick Abrahams galt nicht ihm. Er, Isaak, war für den Vater lediglich ein Spiegel. Und noch mehr entdeckte Isaak nun im Blick des Vaters. Scham und Angst. Angst vor seiner, vor Isaaks Erinnerung. Mit einem Mal fielen die Bilder, die in Isaaks Erinnerung so deutlich mit der Erzählung Abrahams verbunden gewesen waren, in sich zusammen. Der Einhalt gebietende Engel wurde schemenhaft, löste sich auf und entpuppte sich als ein im Mondlicht weiß schimmernder Busch. Der heroische Vater, mit dem erhobenen Messer vor dem Opferaltar stehend, sank in sich zusammen, ließ das Messer zu Boden fallen und bedeckte Isaaks Gesicht mit Tränen und Rotz.

Abraham hatte gelogen. Kein Engel hatte seine Hand mit dem Messer aufgehalten. Abraham war zu schwach gewesen, hatte Gottes Befehl missachtet. Und dann, weil er die Schande nicht ertragen konnte, auf dem Heimweg diese Legende ersonnen, die aus dem Versager einen Helden machte.

Isaak stürzte in tiefe Verzweiflung. Wer erträgt es schon, auf seinen Gott, auf seinen Vater herabzublicken. Vierzig Tage verstummte er und irrte in der Wüste seines Inneren umher, kämpfte mit den Dämonen der Ausflüchte und der falschen Liebe. Doch besiegte Isaak all diese Dämonen und kehrte geläutert und gereinigt aus der Wüste zurück.

Nun verstand Isaak, warum ihm die Worte, mit denen der Vater ihn früher von Gott unterrichtet hatte, trocken und dürr, wie schleppende Schritte in verwelktem Laub geklungen hatten. Denn es gibt nur einen einzigen Gott und der Versuch Abrahams, sich durch eine Legende einen eigenen Gott nach seinen Vorstellungen zu erschaffen, war ein gotteslästerlicher Frevel. Alle Zweifel waren nun von Isaak genommen. Er war nicht mehr fremd, ausgestoßen, nun war er ein Auserwählter. Er würde die von Abraham mit Blindheit geschlagene Menschheit wieder sehend machen. Er nahm die Bürde auf sich, die der Vater in seiner Schwäche von sich gewälzt hatte.

Ein einfaches, einsames Opfer genügte nun nicht. Er musste ein Zeichen setzen. Ein weithin sichtbares Zeichen. Isaak scharte im Stillen Anhänger um sich, die er über die Wahrheit Gottes belehrte. Als ihm die Zahl seiner Anhänger gewaltig genug erschien, ging er mit ihnen auf den Berg Morija. Jeder seiner Anhänger nahm ein oder zwei Ungläubige mit, die auf ihre Reden mit Zweifeln oder gar Widerspruch reagiert hatten. Diese nahmen sie mit Gewalt, gefesselt und geknebelt, denn wenn der Herr befiehlt, gibt es keine Gewalt, sondern nur Einfügung.

Auf dem Gipfel fegte Isaak den Staub von dem Altar, der all die Jahre geduldig gewartet hatte. Er stellte sich auf den Altar, das Messer in der erhobenen Hand. Seine Anhänger mit ebenfalls erhobenen Messern auf ihren Opfergaben kniend und auf sein Zeichen wartend.

Einen kurzen Moment fragte er sich, ob sein Vater, wenn er gleich die Blutströme den Berg hinunter fließen sähe, stolz auf ihn sein würde, oder ob die Scham über die eigene Schwäche ihn zu Boden werfen würde. Doch dann vergaß er den alten, verfallenden Vater und dachte nur noch an seinen, den einzigen Gott.

Und deshalb, da er im Moment der Tat nur an Gott dachte, überfiel ihn keine Schwäche, er war nur noch in Gott, war ein Werkzeug Gottes und vollführte lediglich die von Gott befohlene und verantwortete Tat. Mit einem kraftvollen Zug schnitt er seine Kehle durch. Und noch während sein Blut warm und dampfend in einer mächtigen Fontäne aus seinem Hals schoss und sich über den Altar und den Berggipfel ergoss, schauten seine Augen tief hinab in das Tal seines Vaters Abraham.


[1] Morphological abnormalities of paleo-hebrew characters in parabiblical texts. Yale University Press, August 2000

 

Die Krankheit   (Kurzgeschichte sowie Kapitel des Romans "Kafkarabesken oder Die Ermittlungen") 

Ich habe mich lange geweigert, mir meine Krankheit einzugestehen. Ich könnte nicht sagen, wann meine Augen das erste Mal registrierten, dass die Spitze des rechten kleinen Zehs ein klein wenig abgeplatteter war als sonst. Selbst als der Zeh bereits an der Spitze des Zehennagels endete, versuchte ich es nicht zu beachten. 

Doch nachdem der Zeh nur noch halb so groß war wie der linke, begann die Sache mich zu beunruhigen. Was mich irritierte, war die Tatsache, dass der Zeh nicht insgesamt geschrumpft war, sondern die obere Hälfte einfach fehlte. Deshalb ging ich auch nicht zum Arzt. Es erschien mir lächerlich, einem Arzt diesen halben, aber eben völlig gesund aussehenden Zeh zu zeigen. Ich fand, ich hätte wegen solch einer Lappalie kein Anrecht auf ärztliche Aufmerksamkeit. 

Wirklich belastend wurde es erst, als sich das Gefühl der Peinlichkeit einstellte. Der Zeh war mittlerweile gänzlich weg und trotz des heißen Sommers zog ich keine Sandalen mehr an. Dass ich zu diesem Zeitpunkt schon diese übertriebene Scheu empfand, lag darin begründet, dass ich das Fehlen des Zehs nicht mit einem Unfall oder einem angeborenen Defekt hätte rechtfertigen können. Das Unverständliche war Ursache des Schamgefühls. 

Hinzu kam, dass mittlerweile auch der zweite äußere Zeh zu schmelzen begann und dies nun wirklich kurios aussah. Ich besorgte mir medizinische Bücher, doch ich fand keine Erklärung. Alle Krankheiten, die mit dem Verlust von Gliedmaßen einhergehen, sind mit Fäulnisprozessen verbunden. Mit schwarz werdendem Fleisch, mit eitrigem Schleim und mit Gestank. Bei mir dagegen sah alles natürlich, makellos aus und ich fühlte mich – im Grunde – pudelwohl. Wie hätte ich so zum Arzt gehen können! 

Als der rechte Fuß bis auf die Ferse verschwunden war, wurde es schwierig, meinen Defekt zu verbergen. Ich besorgte mir Krücken und schützte überall eine komplizierte Operation an den Gelenkbändern vor. Aus Draht und Pappmaché bastelte ich eine Attrappe, die ich mit Bandagen umwickelte und mittels Holzschienen am Bein befestigte. 

Leichte Panik ergriff mich, als es auch an der linken Hand anfing. Ich zog einen Handschuh an, aber im Büro löste das verständlicherweise Befremden aus. Ich stotterte zwar eine Erklärung über eine unangenehme Hautkrankheit, doch merkte ich, dass man mir spätestens jetzt misstraute. Erst die Krücken und das steife Bein, dann dieser Handschuh! Meine Position in der Firma, zuvor durch kollegiales Wohlwollen, wenn nicht gar Respekt gesichert, geriet ins Wanken. 

Bevor die Finger der linken Hand verschwanden, bastelte ich vorausschauend eine Handattrappe. Trotzdem kündigte ich kurz darauf. Das Versteckspiel mit zwei Attrappen wurde einfach zu anstrengend. 

Um mein Auskommen machte ich mir keine Sorgen. Die Dauerüberweisung für die monatliche Miete ist noch für längere Zeit gewährleistet und für meine Ernährung benötigte ich schon damals nicht mehr allzu viel. Mit abnehmender Körpermasse sinkt auch die zum Leben notwendige Nahrungsaufnahme. 

Als der linke Arm bis zum Ellenbogen weg war, log ich meinem Wohnungsnachbarn etwas von einer schweren Diabeteserkrankung vor, die eine Amputation des Armes unvermeidlich gemacht hätte. Trotzdem deponierte ich nach diesem Gespräch in größerem Umfang dauerhaft haltbare Nahrungsmittel in meiner Wohnung, um diese kaum noch verlassen zu müssen. 

Auf der anderen Seite muss das Verhalten dieses Nachbarn – er klingelte gelegentlich bei mir und fragte, ob er für mich Besorgungen machen solle – mich weich gestimmt haben. Eines Tages, er hatte wieder einmal geklingelt, vergaß ich plötzlich all mein Schamgefühl und erzählte ihm vom wahren Wesen meiner Krankheit. Ich geriet in Eifer, begann mein Jackett auszuziehen, um ihm meinen makellosen, narbenfreien Armstumpf – mehr als ein kleiner Stumpf, der kaum noch aus der Schulter ragte, war es nicht mehr – zu zeigen. Verständlicherweise zog er sich schnell, aber trotz allem äußerst höflich zurück. 

Immerhin mied er mich seit diesem Tag. Durch die geschlossene Tür, durch die Wände spürte ich seine wachsende Scheu. Und wie sollte er nicht Scheu, Abneigung, Ekel verspüren angesichts meiner Krankheit. Um ihn nicht weiter in Verlegenheit zu bringen, teilte ich ihm in einem Brief mit, ich sei zu einem längeren Kuraufenthalt gefahren. 

Seitdem habe ich meine Wohnung nicht mehr verlassen und bewege mich nur noch leise kriechend. Das Gewicht des Körperrumpfes ist mittlerweile gering genug, um vom verbliebenen rechten Arm über den Boden gezogen zu werden. Ein Problem schien sich mir aufzutun, als es mir nicht mehr gelang, mich auf die Toilette hochzuziehen. Doch beruhigte ich mich bald, denn die Menge der Ausscheidungen, die ich seit dem auf dem Boden des Badezimmers verteile, ist entsprechend meiner Nahrungsaufnahme kaum noch der Rede wert und wird wohl kein hygienisches Problem darstellen. 

Schmerzen sind mit meiner Krankheit nicht verbunden. Wahrscheinlich war dies auch ein Grund dafür, warum ich nie zum Arzt ging. Worüber hätte ich denn klagen sollen? All meine Körperränder sehen makellos aus. Sie strahlen regelrecht Gesundheit aus. Als mein Körperrumpf bis auf die Hälfte geschmolzen war und in einem sanften Bogen von der linken Schulter zur rechten Hüfte abschloss, vertiefte ich mich oft stundenlang in die Schönheit dieser ungewöhnlichen Körperbegrenzung. Es gab – wie gesagt – keine Wundränder, keine Rötung, keine Haut- oder Fleischfetzen, keine Risse, Schrammen. Die Ränder meines Körpers sahen in ihrer Natürlichkeit berauschend schön aus. 

Um mir die Zeit zu vertreiben, verfiel ich schließlich auf die Idee, diesen Bericht zu schreiben. Das Schreiben mit nur einer Hand, einem Arm auf dem Fußboden ist mühsam, doch so habe ich mein Tun, habe etwas, das mich diszipliniert. Ich kann nicht sagen, ob es Zufall ist, dass die rechte Hand so lange unangetastet blieb von der Krankheit. Erst nachdem der Körperrumpf bis auf ein schmales Stück der rechten Schulter, welches den Kopf mit dem Arm zusammenhält, geschmolzen war, begann sich der kleine Finger der rechten Hand zu verkleinern. Mit mittlerweile nur noch zwei Fingern ist das Schreiben kaum noch möglich. Immer öfter rutscht der Stift aus den Fingern. Geduldig – geduldig sehe ich auf das Blatt und versuche, weiter z 


 

Die Mission  (Kurzgeschichte sowie Kapitel des Romans "Kafkarabesken oder Die Ermittlungen")

Ich war mir sicher: Irgendetwas musste mich gezeichnet haben, denn ohne Grund wurde ich von den Freunden aus dem Zelt geworfen. Wir hatten uns verschätzt, das Zelt im Garten eines der Freunde hatte beim besten Willen nur Platz für sechs Matratzen – doch wir waren sieben. Eine Weile hatten wir eng beieinander im Zelt gesessen und das Problem besprochen, Witze darüber gemacht, als Kai plötzlich verkündete: „Der Franz muss raus.“ 

Ich fand keinen Grund für diese Entscheidung – ich hatte mich nie als Außenseiter in unserer Gruppe empfunden; auch war mein Bruder über ein Jahr jünger als ich und damit der weitaus Jüngste, der manchmal durchaus lästige „Kleine“. Vielleicht, so dachte ich, war es einfach nur, weil ich dem Zeltausgang am nächsten saß. Doch schien mir dies schon damals als Begründung nicht wirklich plausibel. Trotzdem war mir sofort klar, dass diese Entscheidung die einzig mögliche war. Ich musste gehen, nicht einer der anderen. Daher wunderte es mich auch nicht, dass niemand Kai widersprach. 

Auch ich widersprach nicht. – Natürlich: Ich heulte und verfluchte die anderen, als ich nach einem Moment betretener Stille aufsprang und aus dem Zelt stürzte. Doch dieses Heulen und Schimpfen war nur ein kindlicher Reflex, kein wirklicher Widerspruch, kein Protest. Was sollte auch Widerspruch gegen eine unabänderliche Tatsache? 

An diesem Tag erwachte ich aus meinen kindlichen Träumen und erkannte, dass ich gezeichnet war. Wie naiv muss ich gewesen sein, dass ich bis dahin die ständigen Blicke auf mich nicht bemerkt hatte, das Getuschel der Klassenkameraden hinter meinem Rücken, das ironische Lächeln der Lehrer, wenn ich eine Frage stellte. Alle wussten Bescheid, nur ich hatte bis zu diesem Tag die Augen verschlossen. Selbst mein kleiner Bruder wusste Bescheid, sonst hätte er am nächsten Tag auf die Frage der Eltern, warum ich nicht mit im Zelt geschlafen habe, kaum mit einem lapidaren „Es war halt kein Platz mehr im Zelt“ geantwortet. Jetzt verstand ich auch, dass die Eltern auf eine solche Antwort nur mit einem Achselzucken reagieren konnten. Oder war es nicht sogar ein erleichtertes Aufatmen? 

Ab diesem Tag erkannte ich auf Schritt und Tritt die verwunderten Blicke wildfremder Leute, das Kopfschütteln. Ich versuchte mich zu verstecken so gut es ging, senkte den Blick, schaute an den Leuten vorbei, sprach mit immer leiserer Stimme, wenn es sich nicht überhaupt vermeiden ließ zu sprechen. Doch ich spürte, dies genügte nicht. 

Das Wissen um mein Ungenügen nagte an mir, machte mich ratlos. Manchmal bäumte sich etwas auf in mir, dann stand ich stundenlang vor dem Spiegel und versuchte herauszufinden, wodurch ich gezeichnet war, woran mich alle erkannten. Stundenlang betrachtete ich mein Gesicht, obwohl ich genau wusste, diese Suche war unnütz und lächerlich. Nie würde es mir gelingen, in meinem Spiegelbild das zu erkennen, was andere in mir sahen. Ich war nicht eingeweiht, würde es nie sein. 

Ganz deutlich erkannte ich dagegen die zunehmende Ungeduld aller anderen, die immer häufigeren versteckten Hinweise und Aufforderungen. Auf der Straße, in den Zeitungen, im Radio, in den Fernsehnachrichten. Sie quälten mich – diese Aufforderungen; denn offenbar erkannte niemand den Grund für mein Zögern. Ach, liebend gerne hätte ich mich dem Unabänderlichen gefügt, wenn ich nur gewusst hätte wie. Sie überschätzten meine Fähigkeiten. 

Ich war wie gelähmt. Bis zu jenem Tag, an dem ich im Fernseher den Bericht über die Mission sah. Die Weltraummission, welche die Unendlichkeiten des Weltalls erforschen sollte. Eine Expedition ohne Rückkehr. Die Weltraumsonde würde den unendlichen Raum erforschen und die gesammelten Daten zur Erde senden. Immer und immer fort, bis die Signale irgendwann auf der Erde nicht mehr zu empfangen sein würden. Dann hätte sie ihre Mission erfüllt. Offenbar war ich die ganze Zeit sehr unaufmerksam gewesen, hatte mich zu wenig für Weltraumforschung interessiert: Die Mission war immer wieder aufgeschoben worden. Plötzlich stand mein Vater in der Tür, lachte und fragte: „Na, würdest du da gerne mitfahren?“ 

Der Vater hatte das ins Wohnzimmer hinein gesagt und es war gar nicht ersichtlich, ob er mich oder meinen Bruder gemeint hatte. Doch was sollte eine solche Frage mit meinem Bruder zu tun haben? Nein, jetzt wusste ich Bescheid. In dem Fernsehbericht war zwar ausdrücklich von einer unbemannten Mission die Rede, doch die Bilder, in denen ein Techniker für die letzten Kontrollen in den winzigen Innenraum der Weltraumsonde krabbelte, waren für mich Hinweis genug. Auch die Tatsache, dass mein Vater vor einigen Wochen ein Poster über unser Sonnensystem im Flur aufgehängt hatte – mit der Bemerkung, er müsse doch irgendwie unser Interesse an den Naturwissenschaften wecken (ja, natürlich sagte er ,unser‘ und nicht plump ,dein Interesse‘) – auch diese Tatsache machte jetzt Sinn. 

Noch in der gleichen Nacht ging ich. Ich nahm mir alles Geld aus der Geldbörse, die aufgeklappt neben der Handtasche meiner Mutter auf dem Küchentisch lag. Sie enthielt erstaunlich viel Bargeld. Dieses Hinweises hätte es nicht mehr bedurft, aber ich war dankbar, denn es erleichterte mir die lange Reise doch enorm. Dass mir die Reise so problemlos gelang, ich als Kind durch alle Kontrollen und Grenzübergänge hindurchschlüpfte, wunderte mich nicht. Wäre es doch widersinnig gewesen, mich jetzt zu behindern. Außerdem hatte ich gelernt, mich unscheinbar zu machen. 

Auch die Sicherheitssperren auf dem Weltraumbahnhof überwand ich ohne Schwierigkeiten. Mir war klar, dass diese Sperren nur dazu dienten, den Schein zu waren. Glatt und weiß stand die Rakete, welche die Sonde in den Weltraum befördern sollte, schließlich vor mir. Ich zögerte, doch nur kurz, denn wie ein Vibrieren der Luft fühlte ich die Ungeduld um mich herum. Ich spürte die Blicke unzähliger Techniker auf meinem Rücken, als ich die Leiter zu der kleinen Luke der Weltraumsonde bestieg. Die Blicke machten mich nervös, meine Hände begannen zu schwitzen, doch ich drehte mich nicht um. Ich kroch durch die Luke und verschloss sie von innen. Ich atmete auf. 

Das Innere ist nur durch eine kleine Lampe erleuchtet, die ein fahles, gräuliches Licht wirft. Mühsam zwängte ich mich durch Kabelschächte, bis ich zu einer Stelle kam, an der ich gerade genügend Platz fand, mich in halb liegender, aber bequemer Stellung hinkauern zu können. Ich schaute mich um. Nirgendwo fanden sich Armaturen, Hebel, Knöpfe, Schalter. Wozu auch?  Nur über meinem Kopf befand sich ein roter Knopf, der unentwegt blinkte – auffordernd, lockend. Ich lehnte den Kopf zurück und spürte eine tiefe Erleichterung. Nur meine Hand zitterte leicht, als ich sie hob und mit dem Zeigefinger den Knopf drückte. 

Ich weiß nicht, wie viele Tage dies nun her ist und ich könnte nicht sagen, aus welchem Bedürfnis heraus ich dies alles mit Hilfe einer Tastatur, die ein Techniker hinter dem Kabelgewirr offensichtlich vergessen hatte, eingetippt habe. Die Sender der Weltraumsonde werden sicherlich nicht dazu da sein, dies der Erde zu übermitteln. 


 

Die Stiftung oder Die neue Würde  (Kurzgeschichte)

 Wir sind heute hier versammelt, um Abschied zu nehmen von Ingeborg Hauser, die so früh von uns gegangen ist. Zu früh, werden Sie, verehrte Trauergäste sagen, denn sie hinterlässt eine schmerzliche Lücke. 

Ja, Sie haben Recht, sie hinterlässt eine Lücke, denn sie war uns allen ein Vorbild. Und solche Vorbilder gibt es nur allzu wenige in der heutigen Zeit. Dass dieses Vorbild nicht mehr unter uns weilt, muss tiefe Trauer auslösen. Wir müssen diese Trauer respektieren, müssen sie zulassen und uns ihr eine Zeit lang hingeben. Doch – liebe Trauergemeinde – wir dürfen nicht in ihr versinken. Lasst uns daher nicht an das denken, was wir durch das frühe Hinscheiden Ingeborg Hausers verlieren, sondern an das, was sie uns in ihrem Leben und noch viel mehr durch ihren Tod gegeben hat. Kraft und Zuversicht sollten wir dadurch gewinnen. Sie wollte uns ein Vorbild sein – nein, sie war – sie ist uns ein Vorbild. Dürfen wir sie nun enttäuschen? Soll ihr Tod, ihr ganzes Leben umsonst, unnütz gewesen sein? Ich weiß, in dieser Stunde ist es für Sie, liebe Trauergemeinde, schwer, das Positive zu sehen, nach vorne zu blicken. Doch Ingeborg Hauser wollte genau dies: dass Sie – dass wir alle zuversichtlich nach vorne, in eine bessere Zukunft schauen können. 

Ingeborg Hauser hat sich nach einer kurzen Zeit des trotzigen Rückzugs aus der Gesellschaft doch noch als ein würdiges Mitglied dieser unserer Gesellschaft erwiesen und deshalb sollten auch wir mit Würde ihrem Tod begegnen. Denn wo, verehrte Trauergäste, kann sich das Recht auf ein Leben in Würde deutlicher offenbaren als in diesem letzten, schweren Weg eines jeden Menschen? Diesen Weg in Würde zu gehen und durch diese Würde zum Vorbild für andere zu werden: Kann es ein erfüllteres Leben geben? 

Ingeborg Hauser hatte nicht die Möglichkeiten – sei es aufgrund der Geburt oder äußerer Umstände – nennenswerte Leistungen für die Gesellschaft zu erbringen. Zwar hat sie zeit ihres Lebens einen eisernen Willen gezeigt. Sich immer wieder aufs Neue bemüht, die Grenzen ihrer körperlichen und vor allem geistigen Fähigkeiten zu sprengen. Lange wollte sie sich nicht eingestehen, dass dieser Wille alleine nicht genügt. Dass eine prinzipielle Leistungsbereitschaft dem Wohl der Gemeinschaft kaum dienlich ist, wenn die notwendige Leistungsfähigkeit nicht vorhanden ist. Erst die unvermeidliche und sich schon lange abzeichnende Kündigung durch ihren Arbeitgeber vor einem Jahr hat ihr die Augen geöffnet. Schlagartig wurde ihr bewusst: Niemand braucht sie. 

Wie so viele in ihrer Situation fiel sie in ein schwarzes Loch, in eine tiefe Depression. Sie zog sich zurück, ergab sich dem Alkohol, vegetierte nur noch vor sich hin. Wer ihr in dieser Zeit begegnet ist, wird mir zustimmen: Sie war ein abstoßendes Bild des Jammers. 

Bis – ja, bis sie vor drei Monaten den Weg zu unserer Stiftung fand. Hier, in unserer Stiftung, fand sie neue Kraft, wuchs zum ersten Mal in ihrem nutzlosen Leben tatsächlich über sich hinaus, um schließlich mit diesem letzten Schritt der Gesellschaft den größten Dienst zu erweisen, der sich denken lässt. 

In Demut beugen wir unser Haupt vor ihr, die bereit war, die Hilfe unserer Stiftung in Anspruch zu nehmen. Wie so viele vor ihr, welche im Kontext der sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen als gesamtgesellschaftliche Last zu betrachten waren, welche die notwendige Qualifizierung im Zeitalter der Globalisierung nicht erreichen konnten – sei es aus physischen, psychischen, familiären oder besonderen kulturellen Gründen – hat Ingeborg Hauser mit unserer Stiftung einen Weg gefunden, sich doch noch als würdiges Mitglied unserer Gesellschaft zu erweisen. Unsere Stiftung gab ihr die Kraft, ihren Platz zu räumen, um den Leistungsfähigeren nicht zur Last zu fallen. 

Doch Ingeborg Hauser fand nicht nur Kraft, sondern eben auch Würde. Und dies ist es, worauf wir besonders stolz sind. All diesen Nicht-Gebrauchten ihre Würde zurückzugeben, indem wir ihnen den einzigen Weg aufzeigen, der Gesellschaft ihren Dienst zu erweisen. Einen großen Dienst. Mehr noch – ich möchte sogar so weit gehen, zu behaupten, dass die Mandanten unserer Stiftung der Gesellschaft einen größeren Dienst erweisen als all die Erfolgreichen, die Leistungsträger, die genialen Ingenieure und Entwickler, die Investoren und geschickten Finanzjongleure, die Unternehmensberater und Marketingexperten, die politischen und unternehmerischen Entscheidungsträger. Denn unsere Mandanten erbringen ihre Leistung ohne jede materielle Gegenleistung. Sie streben nicht nach Wohlstand, Macht, Anerkennung und Erfolg. Ihr einziger Antrieb ist die Bereitschaft, sich der Gemeinschaft zu opfern. 

In meinen Augen sind sie die wahren Helden in der heutigen Zeit, sie sind die wahren Patrioten. 

Daher möchte ich Ingeborg Hauser ganz persönlich meinen tief empfunden Dank aussprechen. Ruhe sie in Frieden. 

Nicht versäumen möchte in an dieser Stelle, im Namen unserer Stiftung „Input durch Exitus“ auch all jenen zu danken, die seit Jahren unsere Arbeit großzügig unterstützen: dem Arbeitgeberverband, den Finanzinstitutionen, zahllosen Unternehmen, den Landes- und Bundesbehörden sowie den Kommunen, die uns in gänzlich unbürokratischer Weise die Nutzung der Krematorien ermöglicht. 

Bevor wir nun Ingeborg Hauser das letzte Geleit geben, möchte ich sie noch auf die Anmeldeformulare aufmerksam machen, welche am Ausgang ausliegen. Es war Ingeborgs ausdrücklicher Wunsch, auf ihrer Beerdigung für unsere Stiftung zu werben. Diese einzigartige Frau wollte selbst nach ihrem Tode noch etwas bewirken. Wer sich unter Ihnen also vorstellen könnte, Ingeborg Hausers Beispiel zu folgen, möge sich – natürlich ganz unverbindlich – ein Formular mitnehmen. Er wird in unserer Stiftung herzlich willkommen sein. 

 

Wüste  (Kurzgeschichte)

 Jeder soll glauben,
was er glaubt,
aber keiner soll glauben,
dass er besser glaubt 


Ich glaube, meine Chancen sind nicht schlecht. Mit fünf Wasserflaschen sollte ich es schaffen. Die beiden anderen sind wahnsinnig. Werden im Kreis laufen und verrecken. Sind schon nicht mehr zu sehen. Nur noch der verbeulte Jeep. 

„Expeditions in the heart of the desert” stand auf dem Schild vor seinem schäbigen Büro. Im Hotel nannten sie ihn den verrückten Engländer, aber er war der einzige, der in Marzuq Wüstentouren anbot. Wir hatten uns im Hotel kennen gelernt, Dany, Adam und ich. Im letzten Augenblick kam noch dieser Stille dazu, dieser blasse Micha. Sah irgendwie kränklich aus. 

Beim Engländer hätte uns das aufgedunsene Gesicht warnen müssen. Aber die drei Klappspaten, griffbereit auf der Motorhaube befestigt, die haben uns geblendet. Hatte uns sein Satellitentelefon und das GPS-Navigationsgerät gezeigt, doch bei einem derartigen Abenteuer ist es das Archaische, das Handgreifliche, was den Reiz ausmacht. Er sagte, er kenne die Wüste wie seine Westentasche. Doch was nützt einer, der sich auskennt, wenn er verreckt. Waren den ganzen Tag durch Fels- und Sandwüste gefahren, als er plötzlich am Lenkrad zusammensackte. Wahrscheinlich Herzinfarkt. Der Jeep krachte gegen einen Felsbrocken und die Vorderachse brach. 

Zuerst waren wir bloß aufgeregt wegen des Engländers. Bis Adam fragte, wie wir alleine aus der Wüste rausfinden. Dany hielt das Satellitentelefon in die Höhe. Doch entweder hatte der Engländer vergessen, den Akku zu laden, oder es war schon lange kaputt. Da verlor Dany zum ersten Mal die Beherrschung. Knallte das Gerät gegen das Dach des Jeeps. „Verdammter Engländer! Fährt uns in die Wüste und krepiert dann einfach!“ 

„Wir haben Wasser und Nahrung für eine Woche", versuchte ich ihn zu beruhigen. "Bis dahin wird man uns schon finden.“ 

„Finden?“, schrie Dany. „Man wird uns frühestens in einer Woche vermissen und die schicken bestimmt nicht sofort nen Suchtrupp los, wenn wir nicht pünktlich auftauchen.“ 

Trotzdem blieben wir zunächst beim Jeep. Im Jeep waren die Zelte, die Nahrungsmittel, der Wasserkanister. Den Engländer begruben wir am nächsten Morgen. Mit den drei Klappspaten. Dany wurde bereits am ersten Tag ungeduldig. „Ich schau doch nicht tatenlos zu, wie das Wasser zur Neige geht.“ 

Auf den Karten des Engländers war Marzuq verzeichnet, aber wo befanden wir uns? Das Navi konnte uns nicht helfen. Danys Kamera hatte beim Unfall das Display zerschlagen. Dany und ich vermuteten unsere Position irgendwo südlich von Marzuq. 

„Aber am Vormittag“, sagte Adam, „hatten wir die Sonne lange im Rücken. Das heißt, wir sind nach Westen gef...“ 

„Schwachsinn!“, fuhr Dany ihn an. „Wir sind kreuz und quer durch die Felsen gefahren." 

Der Stille, dieser Micha, kommentierte unsere Überlegungen allenfalls mit einem Vielleicht ..., Könnte sein ... Gleich am ersten Abend hatte Dany mir zugeraunt: „Der Kleine wird keine Hilfe sein. Wenn der nicht noch durchdreht vor lauter Schiss.“ 

Das Warten zermürbte uns alle. Dany wollte losmarschieren. Nach Norden. Zurück nach Marzuq. Wir schätzten, dass wir höchstens achtzig Kilometer entfernt waren. In zwei bis drei Tagen dürfte das zu schaffen sein. Aber nur, wenn die Richtung genau stimmte. Ich plädierte dafür, auf das Gebirge am südöstlichen Horizont zuzugehen. Auf der Karte sind dort Berge eingezeichnet und eine kleine Stadt – Timimouri. Allenfalls sechzig Kilometer, wenn die Vermutung über unseren Standort richtig war. Vor allem trifft man garantiert die Straße, die parallel zu den Bergen verläuft. Doch Dany blieb stur bei seinem Norden. Deshalb zögerten wir. Auch, weil der Wasserkanister zu groß zum Tragen und der Vorrat an tragbaren Wasserflaschen begrenzt war. Vier Flaschen für jeden. Das war verdammt wenig. 

Am dritten Tag winselte Adam nur noch: „Ich will nicht sterben.“ Dany schrie ihn an und selbst ich gab ihm eine Ohrfeige, um ihn zur Besinnung zu bringen. Und dann das Misstrauen. Beim Pinkeln kam Dany zu mir. „Der Kleine kontrolliert ständig den Wasserkanister. Vier Flaschen sind dem zu wenig. Ich sag dir, der will sich heut Nacht mit allen Flaschen alleine verpissen.“ 

Adam hatte wieder Hoffnung geschöpft, seit er auf die Idee verfallen war, den Reifenspuren zu folgen. „Wir müssen einfach nur Umkehren. Die Spuren zurückverfolgen.“, wiederholte er unentwegt, mit sich überschlagender Stimme. Totale Schnapsidee! Der Wind hatte die Spur fast völlig verweht. Und Dany – wenn ich ihm Timimouri auf der Karte zeigte, stieß er mit dem Zeigefinger wie mit einem Dolch in die Karte und sagte: „Und wenn Adam doch Recht hat, dann befinden wir uns jetzt hier und bis zu deinen Bergen sind es fast zweihundert Kilometer.“ 

„Klugscheißer“, rief ich. „Die ganze Zeit heißt es, Adam redet nur Müll, – und jetzt sagst du, er könnte doch Recht haben.“ 

„Klar redet der Müll. Aber das mit dem Gebirge ist auch Müll. Vielleicht ist dein gigantisches Gebirge am Horizont nur eine kleine Hügelkette, die hier eingezeichnet ist. Oder hier, oder hier ...“ Dabei stieß er jedes Mal irgendwo in die Karte. „Gleich am ersten Tag hätten wir losgehen sollen, aber ihr – ihr wolltet warten.“ Er griff sich einen der Klappspaten und prügelte damit auf den Wagen ein. „Warten, Warten, Warten.“ 

Adam wimmerte und schaute hektisch im Kreis herum, bis sein Blick an Micha hängen blieb. „Micha, du bist doch auch dafür, dass wir den Reifenspuren ...“ 

„Ja genau, Micha“, fiel Dany dazwischen, „was ist mit dir? Sitzt da, als ginge ihn die Sache nichts an.“ 

„Ich habe Angst“, antwortete Micha. "Weil ich nicht weiß ...“ 

„Herrgott!“, rief Dany. Und mit nachäffender Stimme: „Ich weiß, dass ich nichts weiß. – Jetzt komm mir nicht mit Philosophie." Er packte Micha und schrie: „Niemand hier weiß es genau. Aber ich glaube, dass wir nach Norden gehen müssen. Adam glaubt an seine Reifenspuren und der da an sein Gebirge. Und jetzt will ich wissen, was du glaubst. Ich nehm dir nicht ab, dass du keinen Plan hast. Was, verdammt noch mal, glaubst du?“ 

Micha lächelte merkwürdig. „Ich hab mal einen Spruch gehört.“ 

„Was für ein Spruch?“, fragte Dany, ohne ihn loszulassen. 

„Jeder soll glauben, was er glaubt, aber keiner soll glauben, dass er besser glaubt.“ 

„Willst du mich verarschen mit deinen Sprüchen? Ich will wissen, was du vorhast?“ 

„Ich hab keinen besseren Plan“, sagte Micha. „Deshalb habe ich Angst. Wenn wir alle die gleiche Idee hätten ... Das würde uns gegenseitig Mut machen ...“ 

Adam sprang auf. „Hört ihr! Er will auch, dass wir zusammen bleiben. Micha, sag, dass wir den Reifenspuren folgen müss...“ 

„Die Spur ist kaum noch zu erkennen ...“ 

Adams Gesicht erstarrte. Dann prügelte er plötzlich mit beiden Fäusten wild auf Michas Oberkörper ein. „Hör auf mit deinem Ich weiß nicht. Wir werden alle verrecken, wenn du nicht ...“ 

Als es dämmerte, zündete Dany die Gaslampe an und sagte: „Ich geh morgen los – nach Norden.“ Er schnappte sich einen der Klappspaten und zeigte damit auf Micha. „Und du, Kleiner, bleibst heute Nacht schön liegen und rührst keine der Flaschen an.“ Dann legte er sich hin, den Spaten neben sich. 

Im Grunde glaubte ich nicht, dass Micha ... Viel eher traute ich das Dany selbst zu. Oder Adam. Seine hysterische Verzweiflung konnte schnell in brutalen Egoismus umschlagen. Ich spürte ja selbst in mir zunehmenden Hass aufkommen. Missgönnte jedem seine vier Flaschen. Und Micha? ... hätte doch genügt, sich einem von uns anzuschließen ... Ich legte mich schließlich neben die beiden anderen Klappspaten. Genau wie Adam. 

Und dann steht dieser Idiot tatsächlich mitten in der Nacht auf. Kaum war er hinter dem Wagen verschwunden, raunte Dany: „Was hab ich gesagt.“ 

Ich tastete nach den Flaschen, aber als Dany die Gaslampe aufdrehte, nach seinem Klappspaten griff, da erfasste auch mich Panik, und Wut. Eine grenzenlose Wut, die übermenschliche Kräfte verleiht. Zum Überleben braucht es manchmal diese Wut. Ich griff nach dem Klappspaten, Adam hatte seinen schon in der Hand und dann liefen wir ihm hinterher. Diese Wut ließ nicht nach, auch als er schon am Boden lag, mit offener Hose. „Erst noch pissen und dann mit dem ganzen Wasser abhauen, du Schwein!“, schrie Dany die ganze Zeit. Erst das viele Rot, dass der Sand begierig aufsog, besänftigte unsere Wut. 

 

Seit Stunden gehe ich auf das Gebirge vor mir zu. Dany und Adam sind schon lange nicht mehr zu sehen. Von der Wüste verschluckt. Wie der Jeep und die drei Klappspaten. Ich schaue nicht mehr zurück. Geh nur noch vorwärts. Ich glaube fest daran, dass dort die Rettung liegt. Ohne diesen Glauben könnte ich keinen einzigen weiteren Schritt tun. Jeder Zweifel bedeutet Zögern. Und Zögern bedeutet das Ende – hier in der Wüste. Deshalb muss ich glauben. Glaube felsenfest.