Kinder, Kinder!

Leseprobe aus:
Sophia und die Hexe Vagabundis
       
(Roman für Kinder ab 8 Jahren)
Wie überlebe ich bloß die langweilige Predigt von Pastor Griesepötter?, fragte sich Sophia, als sich die Prozession der Festwiese vor dem Dorf näherte. 

Es war Pfingstsonntag des Jahres 1771 in dem kleinen Dorf Hintertannenrot. Alles war festlich geschmückt. Frische, grüne Birkenzweige und bunte Blumensträuße hingen überall an den mit Stroh gedeckten Häusern und Ställen. Alle Gänse und Hühner waren schon am Abend zuvor in die Ställe gesperrt worden, damit sie mit ihrem Geschnatter und Gegacker die feierliche Prozession nicht störten und selbst den Kuhmist und die Pferdeäpfel, die sonst ständig auf den sandigen Wegen herumlagen, hatten ein paar Knechte aufsammeln müssen. 

Vorneweg gingen zwei junge, starke Männer, die ein schweres, mit Blumen geschmücktes Holzkreuz trugen. Dahinter kam Pastor Griesepötter – wie immer schnaufend und schwitzend. Pastor Griesepötter war groß und hatte einen dicken, prallen Bauch. In seinem Gesicht dagegen wirkte wegen der dicken Backen alles irgendwie zusammengedrückt: die dünnen Lippen, die kleine Nase und die noch kleineren, immer streng blickenden Schweinsäuglein. 

Sophia hatte ihn noch nie lächeln gesehen und es war auch schwer vorstellbar, wo in diesem Gesicht ein Lächeln Platz haben sollte.

Leseprobe aus:
Skratschko & Patsch
   
  (Roman für Kinder ab 10 - und jung gebliebene Erwachsene)
 Ich bin einer der wenigen Menschen, die die beiden persönlich kannten. Skratschko und Patsch. Nicht, dass ich damit angeben will, ganz bestimmt nicht. Nein – wenn ich mich nun, im hohen Alter, entschlossen habe, mein Schweigegelübde zu brechen und ihre Geschichte niederzuschreiben, so einzig und allein, weil ich den Gedanken nicht ertragen kann, dass diese beiden und Skratschkos heldenhafte Taten in den endlosen Tiefen der Vergessenheit versinken. Auch wenn genau das ihr eigener Wille und der Grund für das Schweigegelübde war, das sie mir abnahmen, bevor sie von uns gingen. Vielleicht lade ich durch das Brechen dieses Gelübdes schwere Schuld auf mich – allein, ich kann nicht anders. 

Nein, ich kann nicht anders. Selbst die Angst vor Hohlscheins Rache, die mir dadurch unweigerlich droht, kann mich nicht mehr davon abhalten. Schon oft im Verlauf der letzten Jahre habe ich die Feder in die Hand genommen, doch kaum hatte ich die mit Tinte getränkte Spitze auf das stumme, weiße Blatt Papier gesetzt, fuhr mir die Angst vor Hohlschein wie ein eisiger Wind durch mein schlohweißes Haar und ließ meine Hand erstarren. Mehr als ein großer, schwarzer Fleck, der mir wie dunkelrotes Blut erschien, floss nie aus der Feder. Doch nun bin ich alt genug, dieser Angst zu trotzen. Mein Alter duldet keinen Aufschub mehr. 

 

Ich war damals elf Jahre alt. Es war einer jener warmen Frühlingstage, an denen man nach langem Bitten und Betteln zum ersten Mal im Jahr kurze Hosen anziehen durfte. Ich stromerte alleine durch den Wald, der direkt hinter unserem Haus begann. Natürlich hatte meine Mutter mir verboten, alleine in den Wald zu gehen. Ich könne mich verirren in dem dunklen Wald und man wisse nie, wer sich da so herumtreibe. Nicht, dass ich ein unerschrockenes oder einfach fantasieloses Kind gewesen wäre. Im Gegenteil – in unserer Klasse gehörte ich eher zu den Ängstlichen. Aber das Dunkle, Geheimnisvolle des Waldes hinter unserem gepflegten Einfamilienhaus mit dem löwenzahnfreien, englischen Rasen und den akkurat abgestochenen Blumenrabatten war stets stärker als meine Angst – zog mich magisch an. 

Meine Mutter ließ ich während meiner Streifzüge durch den Wald im Glauben, ich hätte mich in meinem Zimmer hinter meinen Büchern verkrochen. Sie hielt mich für einen fanatischen Bücherwurm und forderte mich immer wieder auf, doch lieber mit Karl-Jonas von nebenan zu spielen. Doch den fand ich langweilig. Entweder schaute er fern oder er wollte die ganz normalen Spiele spielen. Außerdem nannte er mich immer Lügner, wenn ich ihm die Geschichten aus den Büchern erzählte, die ich gerade las. 

An diesem Frühlingstag ging ich so tief in den Wald, wie ich es noch nie gewagt hatte. Obwohl mir immer unheimlicher zu Mute wurde, kämpfte ich mich wie unter Zwang durch eine dichte Fichtenschonung. Als der Fichtenwald sich urplötzlich öffnete und ich auf eine große, sonnenüberflutete Lichtung trat, stand ich unvermittelt vor den beiden. Hatte mir zwei Sekunden zuvor das Herz noch bis in die Ohren geschlagen, war ich in diesem Augenblick so verblüfft, dass ich nicht einmal erschrak. Auch sie waren wohl völlig überrascht, sonst hätten sie einen ihrer Tricks angewandt und wären sofort verschwunden. Sie kannten eine Menge Tricks, schließlich gehörten sie zu den Eigentlichen



Das Loch in der Brust oder Wie ich den 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf gegen Onkel Fritz verlor

 Meine Eltern wollten mit mir nie Mau-Mau spielen. Dabei macht mir nichts mehr Spaß als Mau-Mau-Spielen. Sie hatten nie Zeit dafür. Höchstens mal an Weihnachten oder Sylvester.

„Wenn du es unbedingt willst, mein Liebling“, sagte meine Mutter bei diesen Gelegenheiten, „dann spielen dein Vater und ich mit dir jetzt Mau-Mau.“

Viel Spaß machte das aber auch nicht. Denn wirklich Spaß macht es nur, wenn es allen Spaß macht. Wenn man es ernst spielt. So richtig eben, als ginge es um Leben und Tod oder sonst was ganz Wichtiges. Aber meine Eltern langweilten sich nur, guckten dauernd auf die Uhr und gähnten hinter vorgehaltener Hand. Und was das Schlimmste war: sie ließen mich ständig gewinnen. 

Auch als ich das Loch in der Brust hatte, spielten sie mit mir nie Mau-Mau. Dabei hatte ich sie mehrfach darum gebeten. Aber wahrscheinlich haben sie mir vor lauter Aufregung gar nicht zugehört. Vor Aufregung wegen des Loches, mein ich. 

Wie es zu dem Loch kam, weiß ich auch nicht. Irgendwann war es da. Links in der Brust, etwa da wo das Herz liegt. Es war faustgroß und ging glatt durch bis zum Rücken. Mit meiner rechten Hand konnte ich durchgreifen und mich am Rücken kratzen. Und wer sich vor mich stellte und sich etwas bückte, der konnte durch mich hindurch schauen. Natürlich nur, wenn ich oben nichts an hatte.

Als meine Mutter das Loch zum ersten Mal sah, wich sie entsetzt ein paar Schritte zurück, dann fiel sie in Ohnmacht. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, stürzte sie zum Telefon und rief meinen Vater an. Der organisierte dann alles Weitere von seinem Büro aus. Eine Viertelstunde später kam ein Rettungswagen mit Tatütata angebraust. Drei Notärzte, fünf Rettungssanitäter und vier Krankenschwestern stürzten in unser Haus, schnallten mich auf eine Trage, trugen mich in den Garten und schoben mich in den Rettungshubschrauber, der inzwischen dort gelandet war. 

Im Krankenhaus wurde ich stundenlang von oben bis unten untersucht, aber da die Ärzte außer dem Loch und einer etwas kühlen Körpertemperatur nichts Beunruhigendes feststellen konnten, wurde ich drei Tage später aus dem Krankenhaus entlassen. 

Meine Eltern gaben sich damit natürlich nicht zufrieden. Mein Vater setzte alle Hebel in Bewegung. Ich wurde von einem Spezialisten zum anderen geschickt. Aber alle schauten bloß ratlos durch mein Loch. Natürlich verschrieb trotzdem jeder irgendwelche Pillen, Salben, Massagen, Schlammpackungen und was weiß ich noch alles. 

Eine Zeit lang kümmerte meine Mutter sich ganz penibel um die Einhaltung der verschiedenen Behandlungspläne. Den ganzen Tag lief sie mit einem Wecker herum. Sobald dieser klingelte – und das tat er andauernd – schaute sie in einem großen Notizbuch nach, kramte aus einem großen Koffer eine Tablette und steckte sie mir in den Mund.

„So, mein Liebling, das ist die Fünf-Uhr-Tablette von Professor Huber. Die hilft ganz bestimmt.“

Aber irgendwann waren es so viele verschiedene Behandlungspläne und so viele verschiedene Pillen von so vielen verschiedenen Professoren, dass meine Mutter den Überblick verlor. Als ich dann auch noch – von der vielen Medizin war mir schlecht geworden – in den großen Koffer kotzte, gab sie auf. Jammernd lief sie davon, sperrte sich in ihrem Schlafzimmer ein und kam erst wieder raus, als mein Vater nach Hause kam und sie beruhigte. Sie sah sehr mitgenommen aus.

Sonntags darauf hatte mein Vater die ganze Verwandtschaft zusammengetrommelt. Alle waren ziemlich entsetzt von dem Loch in meiner Brust. Sie schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, schrien und redeten durcheinander oder liefen kopfschüttelnd im Zimmer herum. Da keiner einen Rat wusste, kümmerten sie sich schließlich um meine Mutter, die kurz vor einem Nervenzusammenbruch war.

Nur einer regte sich nicht auf über mein Loch. Onkel Fritz. Er meinte, das sei doch gar nicht schlimm. Solche Löcher kämen schon mal vor bei kleinen Jungs. Die anderen beruhigte das aber nicht im Geringsten. Sie hörten ihm gar nicht zu. Ich glaube, sie haben Onkel Fritz noch nie so ganz ernst genommen.

Als die anderen in den Garten gingen, um sich dort um die riesige Kuchentafel zu kümmern, fragte ich Onkel Fritz, ob er Mau-Mau spielen könne.

„Ob ich Mau-Mau spielen kann?“, rief Onkel Fritz, wobei er beide Arme hob und mich mit großen Augen anschaute. Er drehte sich zur Verandatür und rief in den Garten hinaus: „Der Knirps fragt mich doch tatsächlich, ob ich – ICH – Mau-Mau spielen kann!“

Er wandte sich wieder zu mir und sagte: „Ja weißt du denn nicht, dass ich der amtierende Weltmeister im Mau-Mau-Spielen bin? Seit sieben Jahren ungeschlagen.“

Ich war völlig baff. Davon hatte mir nie jemand erzählt. 

Eine Stunde später saß ich in Onkel Fritz’ Auto. Da meine Mutter wegen ihrer zerrütteten Nerven dringend Ruhe brauchte, waren meine Eltern Onkel Fritz dankbar, als er meinte, er könne sich ja mal meines Falles annehmen. 

Kaum waren wir bei ihm angekommen, setzte er sich an den Küchentisch, schob mit dem Arm das schmutzige Geschirr zur Seite, holte aus der Schublade Spielkarten und fing an, die Karten zu mischen.

„So Junge“, sagte er, wobei er die Karten im hohen Bogen von einer Hand in die andere springen ließ, „jetzt gibt es kein zurück mehr. Jetzt musst du zeigen, was du auf dem Kasten hast. Wir machen einen 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf.“

„Einen 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf?“, fragte ich verwundert.

„Allerdings! Für jedes gewonnene Spiel gibt es einen Punkt. Und in sieben Tagen um genau –”, er stand auf, holte eine große Uhr vom Schrank und stellte sie auf den Tisch, „– um genau fünfzehn Uhr zehn werden wir wissen, wer der Meister ist. Aber ich warne dich: ich kenne kein Pardon! Ha, ich werde dich platt machen wie eine Flunder.“

Er grinste mich an und verteilte die Karten. Und dann begann unser großer 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf. Wir spielten ununterbrochen. Nur zum Essen und zum Schlafen gab es Pausen von genau vorgeschriebener Länge. Und hin und wieder – wenn er ein Spiel gewonnen hatte – stand Onkel Fritz auf und deckte mit beiden Händen vorne und hinten mein Loch in der Brust zu.

„Damit der Wind nicht so dadurch pfeift und dir da drinnen alles auskühlt. Es reicht, wenn du bei diesem Spiel aus dem letzten Loch pfeifst.“

Dabei lachte er jedes Mal und ich entgegnete: „Freu dich nicht zu früh, Onkel Fritz. Du spielst zwar wirklich verdammt gut, aber noch sind die sieben Tage nicht vorbei.“

Wenn Onkel Fritz ein Spiel gewann, knallte er die letzte Karte mit der Faust auf den Tisch und schrie: „Na bitte, noch einen Punkt für Papas Besten!“

Verlor er ein Spiel, knurrte er mürrisch: „Mit den Dummen ist Gott. So viel Glück sollte verboten werden.“

Am siebten Tag, kurz nach fünfzehn Uhr stand es 516 zu 516. Der Schweiß lief uns beiden von der Stirn. Stumm blickten wir uns in die Augen. Die Zeit würde nur noch für ein Spiel reichen. Das entscheidende Spiel!

Ich teilte die Karten aus. Das Spiel lief sehr gut für mich. Bald hatte ich nur noch eine Karte auf der Hand, Onkel Fritz dagegen noch zwei.

„Jetzt siehst du ganz schön alt aus, Onkel Fritz“, sagte ich und grinste.

Aber ich hatte mich zu früh gefreut. Er grinste zurück und meinte: „Von wegen, alter Knabe“, und knallte eine Pik sieben auf den Tisch.

„Zieh erst mal zwei Karten, aber verschluck dich nicht dran.“

Das war das Aus für mich. Schon in der nächsten Runde konnte er seine letzte Karte ablegen. Er hatte den 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf gewonnen.

Er sprang auf, riss die Arme in die Luft und schrie: „Ha, Onkel Fritz ist und bleibt nun mal der Weltmeister!“

Dann klopfte er mir auf die Schulter und sagte: „Aber alle Achtung! Du warst ein großartiger Gegner. Es wäre keine Schande, gegen dich Grünschnabel zu verlieren.“

Kurze Zeit darauf sank ich völlig erschöpft ins Bett. Onkel Fritz kam noch mal zu mir und fragte mich, was eigentlich mein Loch in der Brust mache. In den letzten Tagen des Wettkampfes hatten wir es vor Aufregung ganz vergessen. Ich richtete mich auf und zog mein Nachthemd aus. Das Loch war nicht mehr da. Einfach weg. Bloß am Rücken konnte man noch eine leichte Eindellung spüren. Aber auch die verschwand nach ein paar Tagen.

 

So war das damals mit meinem Loch in der Brust. Und bis heute ist es mir nicht gelungen, im 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf gegen Onkel Fritz zu gewinnen. Onkel Fritz ist und bleibt der Meister.


Die große Ballonfahrt

 Mama wollte nur kurz etwas einkaufen. „Bin gleich wieder zurück“, sagte sie. „Und wehe, ihr macht den Fernseher an oder daddelt am Computer rum!“

„Was sollen wir denn sonst tun?“, stöhnte ich, aber statt mir zu antworten, rief sie beim Hinausgehen bloß noch: „Und pass bitte auf, dass Johann nicht wieder Unfug anstellt.“

Johann ist mein kleiner Bruder. Er kam mit seinem gasgefüllten Luftballon ins Wohnzimmer. Den hatte Mama ihm auf dem Markt gekauft.

„Lisa, wollen wir Ballonfahrer spielen?“

„Keinen Bock auf deinen Kinderkram“, sagte ich genervt.

„Aber hilf mir wenigstens mal, die beiden Sessel zu verschieben. Für einen Ballonflug braucht man einen großen Korb, in dem man stehen kann.“

Weil ich weiß, wie hartnäckig mein kleiner Bruder sein kann, half ich ihm, den kleinen Tisch vor dem Sofa zur Seite zu stellen und die beiden Sessel so an das Sofa zu schieben, dass alles zusammen wie ein riesiger Korb aussah. Also, dass heißt, bis er fand, dass es wie ein riesiger Korb aussah.

„Wir brauchen noch einen Gasbrenner“, sagte Johann.

„Einen Gasbrenner?“

„Na klar, der Gasbrenner macht die Luft im Ballon heiß und die heiße Luft macht, dass der Ballon in die Luft steigt.“ Er sprang vom Sofa. „Die Lampe ist ein prima Gasbrenner.“

Er holte die Leselampe, die in der Ecke stand und stellte sie zwischen Sofa und Sessel. Zum Anschalten hing vom Lampenschirm eine Strippe herab, an der man ziehen musste. Johann zog an der Strippe und machte ein lautes Zischgeräusch dazu. Er streckte die Faust mit hochgehobenem Daumen aus und sagte: „Funktioniert noch tadellos, der Gasbrenner.“

Ich verdrehte die Augen. „Dein Gasbrenner kann gar nicht funktionieren, du Dummkopf! Ein Gasbrenner braucht eine Gasflasche, so wie Papas Campingkocher“.

Einen Moment lang stand er mit offenem Mund in seinem Ballonfahrerkorb. Dann strahlte er plötzlich übers ganze Gesicht. „Stimmt!“, rief er. „Aber viel größer. Da – die großen Vasen!“

Damit nicht noch ein Unglück passiert, wuchtete ich für ihn die zwei Vasen, die rechts und links des Fensters auf dem Boden standen, über das Sofa und stellte sie neben seinen Gasbrenner – also die Lampe, meine ich. 

„Jetzt kann ’s losgehen“, sagte Johann und ließ den Gasbrenner laut zischen. Plötzlich rief er: „Halt! In einem Ballon braucht man ein Fernrohr.“ Er sprang über den Sessel und holte aus dem Schrank Papas Fernglas.

„Beeil dich! Der Korb hebt gleich ab“, rief ich, um ihn zu ärgern. „Du hast vergessen, ihn festzubinden.“ 

„Scheiße!“, rief Johann, drehte sich um machte einen riesigen Hechtsprung zum Sessel. Bloß mit den Händen hielt er sich an der Armlehne fest und schrie, weil der Korb angeblich schon mindestens zehn Meter über dem Boden schwebe. Als ginge es fast über seine Kräfte, zog er sich mühsam hoch und ließ sich in den Sessel rollen. Ich schüttelte bloß den Kopf.

„Das war ganz schön knapp“, sagte er und japste nach Luft. Dann begann er ein paar Sandsäcke – das waren für ihn die Sofakissen – über Bord zu werfen, um, wie er sagte, schneller an Höhe gewinnen.

Nachdem er drei Sandsäcke abgeworfen hatte, war mir plötzlich, als finge der Boden an, leicht hin und her zu schwanken. Ich schaute zu Johann. Der öffnete seinen Mund und zeigte zum Fenster.

„Da ...“, stammelte er.

Die Bäume und die Straßenlaterne vor dem Wohnzimmerfenster schienen ebenfalls hin und her zu schwanken. Johann sprang aus seinem Korb und beide stürzten wir zum Fenster. 

Es war kaum zu glauben: Unser Haus begann, sich von der Erde zu lösen. Wir lehnten uns aus dem Fenster und schauten zum Dach hoch. Über dem Dach war ein riesiger Ballon, der mit Seilen am Haus befestigt war. Das Haus stieg höher und höher. Bald konnten wir über die ganze Stadt blicken. Rechts war der Supermarkt zu sehen, in dem Mama gerade einkaufen war. 

Plötzlich kam ein kräftiger Wind auf und ließ das Haus so stark schaukeln, dass die Bücher aus dem Regal flogen. Johann fiel hin und rutschte auf dem Boden zur gegenüberliegenden Wand. Als er dort aus dem Fenster guckte, rief er entsetzt: „Der Donnerberg! Der Wind treibt uns direkt auf den Donnerberg zu. Wir müssen sofort an Höhe gewinnen.“

Auf allen Vieren krabbelte er zu den Sesseln und zog wie ein Verrückter am Gasbrenner. Es zischte und zischte. „Lisa“, schrie er so laut er konnte, um das Zischen des Gasbrenners zu übertönen, „du musst alle Sandsäcke abwerfen. Wir müssen schneller steigen. Sonst knallen wir gegen den Berg.“

Ohne lange zu überlegen, öffnete ich das Fenster sperrangelweit, stürzte zum Sofa und warf in Windeseile alle Kissen zum Fenster raus. „Das reicht nicht“, rief ich, „die Kissen sind zu leicht. Wir gewinnen kaum an Höhe.“

„Dann nimm die Bücher. Die haben Mama und Papa eh schon alle gelesen. Wir müssen das Haus leichter machen, sonst sind wir verloren.“

In hohem Bogen schleuderte ich ein Buch nach dem anderen durch das Fenster.

„Ja, gut so! Jetzt steigen wir viel schneller“, rief Johann. „Vielleicht schaffen wir ’s. Noch ein paar Bücher.“

Wir hatten Glück. Kurz bevor der Wind das Haus gegen die Bergwand drücken konnte, glitten wir über den Gipfel hinweg. So knapp, dass wir vom Fenster aus das Gras auf dem Gipfel hätten pflücken können. Die Fahrt wurde jetzt ruhiger und der Blick war fantastisch. Wie eine Spielzeuglandschaft lag die Welt weit unter uns. Doch wir konnten die Aussicht nicht lange genießen. Johann tippte mir auf die Schulter.

 „Schau mal! Dort fliegt ein Vogelschwarm auf uns zu.“ Er hob das Fernglas an die Augen. „Ey, das sind Störche, richtige Störche. Die kommen bestimmt gerade aus Afrika zurück.“

„Zeig mal“, sagte ich. Johann gab mir das Fernglas. „Das ist ja verrückt. Sieht aus, als ob die alle schlafen. Die haben die Augen geschlossen.“

„Na ist doch klar“, sagte Johann und tat, als wüsste er wieder einmal alles. „Auf ihrem langen Flug von Afrika müssen sie auch mal schlafen und da sie den Weg auswendig kennen, schlafen sie eben beim Fliegen.“

„Ich kenn meinen Weg zur Schule auch auswendig und trotzdem kann ich beim Gehen nicht schlafen.“

„Du bist ja auch kein Storch“, antwortete Johann.

Johann muss immer das letzte Wort haben, selbst wenn er dann totalen Blödsinn redet.

„Wenn die nicht langsam abdrehen“, sagte ich, „spießen sie gleich mit ihren spitzen Schnäbeln unseren Ballon auf“.

„Ach Quatsch, Lisa. Die werden schon nicht so blöd sein.“

Sie waren aber so blöd. Wir hörten ein lautes „Rrrrrrtsch“, gefolgt von einem dumpfen Zischen. Zuerst tat sich nichts, aber dann merkten wir, dass wir an Höhe verloren. Zuerst ganz langsam, aber dann immer schneller.

„Ich glaube, jetzt sollten wir doch besser landen“, sagte ich und fasste Johanns Hand.

„Ja“, antwortete Johann, „aber wenn wir weiter so schnell sinken, gibt es eine Bruchlandung. Wir werden uns sämtliche Knochen brechen.“

Er lief zum Gasbrenner und ließ ihn kräftig zischen.

„Das Loch ist zu groß“, rief ich. „Der Gasbrenner alleine kann den Fall nicht bremsen. Wir müssen wieder Ballast abwerfen, Johann!“

„Vielleicht den Fernseher. Der hat ein ordentliches Gewicht.“

„Aber wir wollten doch heute Abend den Trickfilm sehen“, antwortete ich.

„Stimmt“, sagte er, „dann eben – den kleinen Tisch hier.“

Aber auch als ich den Tisch rausgeschmissen hatte, sanken wir kaum langsamer. Ich schnappte nun alles, was ich alleine tragen konnte und warf es raus. Zuerst Kerzenständer, Blumentöpfe, eine Standuhr, dann die Stühle und das Porzellan aus dem Vitrinenschrank. Die Schubladen des Wohnzimmerschrankes nahm ich als Ganzes und warf sie samt Inhalt hinaus.

„Gut so, Lisa“, rief Johann, „wir fallen schon langsamer.“

Ich schaute aus dem Fenster. Der Gipfel des Donnerberges lag wieder über uns und unten in der Stadt konnte man schon einzelne Straßen erkennen.

„Ich kann unseren Garten sehen“, rief ich. „Wenn der Wind uns noch ein kleines Stück nach rechts treibt, landen wir genau richtig.“

Da schrie Johann: „Lisa! Ich glaube, der Gasbrenner gibt seinen Geist auf.“

Ich sprang zu ihm und gemeinsam zogen wir wie verrückt an der Strippe des Gasbrenners. Aber statt eines lauten Zischens war nur noch ein stotterndes „Tsch – tsch tsch – – tsch“ zu hören – dann erlosch der Gasbrenner.

Johann klopfte gegen die beiden Gastanks. „Das Gas ist alle.“

„Wie sollen wir jetzt bremsen?“

Wir schmissen die Gastanks aus dem Fenster, aber das brachte nicht viel. Das Haus fiel zu schnell. Die Bäume unter uns wurden immer größer. Wir hatten nicht mehr viel Zeit. Bald würde das Haus auf der Erde zerschellen und wir unter den Trümmern begraben werden. Johann und ich, wir schauten uns an. Dann schauten wir im gleichen Augenblick zum Fernseher. Dann schauten wir uns wieder an und nickten beide stumm. Uns war klar, dass wir auf den Trickfilm am Abend keine Rücksicht mehr nehmen konnten.

Wir schoben den Fernseher zum Fenster. Einer rechts, einer links packten wir ihn an und versuchten ihn hoch zu heben. Mit allerletzter Kraft gelang es uns, ihn über das Fensterbrett zu wuchten und rauszukippen. Das war unsere Rettung. Auf einen Schlag fiel das Haus viel langsamer. Es war ein Gefühl im Bauch wie in einem Fahrstuhl, der plötzlich abbremst. Schon im nächsten Augenblick gab es einen kräftigen Stoß, wir fielen zu Boden und alles im Haus wackelte. Dann war es still. – Das Haus war gelandet.

Wir rappelten uns auf und schauten aus dem Fenster. Das Haus stand exakt an der Stelle, an der es vorher gestanden hatte. Als wir nach draußen in den Garten gingen, sahen wir gerade noch, wie sich das letzte Seil, an dem der Ballon noch hing, vom Dach löste. Da der Ballon jetzt keine Last mehr zu tragen hatte, stieg er, obwohl er nur noch halb gefüllt war, sehr schnell in den Himmel und war bald nicht mehr zu sehen.

Etwas betreten standen wir neben dem Fernseher und den anderen Sachen, die zertrümmert vor dem Wohnzimmerfenster lagen.

„Was wird Mama sagen, wenn sie das sieht?“, fragte ich.

„Ach was“, sagte Johann, „wenn wir ihr erzählen, was passiert ist, wird sie heilfroh sein, dass wir die Ballonfahrt überlebt haben.“

Ich hoffe, er hat Recht.

 

Sanchari, das Mädchen hinterm Baum 

 Eines Tages stand sie in der langen, dunklen Allee. Die Ahornbäume stehen dort in zwei langen Reihen dicht an dicht und lassen ihre Blätter tief herabhängen. Ein endlos langer finsterer Tunnel. Und ich muss da durch gehen. Jeden Tag. Es gibt keinen anderen Weg zur Schule. Und jeden Tag bekomme ich Herzklopfen, wenn ich da durch gehen muss. Meist gehe ich ganz schnell durch die Allee und schau ganz steif auf meine Schuhe, um bloß nichts zu sehen in den dunkelgrünen Schatten um mich herum. 

Deshalb hätte ich sie gar nicht bemerkt, wenn nicht plötzlich jemand „Sanchari“ gerufen hätte. Erschrocken fuhr ich herum, doch ich sah nur noch, wie sie schnell durch die Büsche davonhuschte. 

Viel gesehen habe ich eigentlich nicht. Aber ihre Haare, die sind mir aufgefallen. Flammend rot und wild zerzaust waren die. Und ihr Kleid bestand aus lauter Flicken. Niemand in meiner Klasse hat so rote Haare. Und so ein schäbiges Kleid habe ich auch noch nie gesehen. 

Und dann vor allem dieser Name! Sanchari. So heißt hier niemand. 

Ich drehte mich um und ging rasch weiter. 

 

Am nächsten Morgen stand diese Sanchari wieder in der dunklen Allee. Hinter demselben Baum. Diesmal sah ich ihre Augen. Sie streckte den Kopf aus dem Schatten des Baumes hervor und verfolgte mich mit einem bösen Blick. Die ganze Zeit, während ich vorüberging. Das spürte ich. 

Ihre Augen waren zum Fürchten. Ganz schwarz, mit einem grünen Funkeln. Ich habe noch nie so schwarze Augen gesehen. 

Auf einmal rümpfte sie die Nase. Diese Nase unter diesen pechschwarzen Augen. „Warum rümpft sie so widerlich die Nase?“, dachte ich. 

Die Nase war riesengroß, rot und so stark gebogen, dass die Nasenspitze fast den Mund berührte. Solch eine Nase kannte ich nur von den bösen Hexen aus meinem Märchenbuch. 

Mein Herz wummerte wie doof und ich stolperte fast, als ich weiterging. 

 

Tags darauf sah ich Sanchari schon von weitem. Sie beobachtete mich. Als ich an ihr vorbeiging, fing sie plötzlich laut an zu knurren. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. 

Dieses Knurren, die krumme Hexennase, die pechschwarzen Augen inmitten der feuerroten Mähne. Wie ein Raubtier auf der Jagd sah sie aus. 

Ich war mir sicher: „Die hat es auf mich abgesehen.“ 

Und dann zog sie auch noch ganz langsam die Oberlippe hoch und zeigte mir ihre Zähne. Sie blitzten in der Sonne. Unbeschreiblich groß waren sie und messerscharf. Wie bei einem fletschenden Wolf. 

Fast wäre ich schreiend losgelaufen, doch ich beherrschte mich und ging zitternd an ihr vorbei. 

 

Am nächsten Morgen wollte ich den ganzen Weg durch die Allee nur auf den Boden schauen. Ich wollte Sanchari nicht ansehen. Nicht ihre Tigerzähne, nicht ihre Hexennase, nicht ihre Augen. 

„Warum lauert die mir jeden Tag auf?“, fragte ich mich. „Warum ausgerechnet mir?“ 

Diesmal sah ich zwar nicht ihr Gesicht, dafür aber etwas anderes, das mich erschauern ließ. Ihre lange Kette mit einem großen, seltsamen Anhänger. Ein merkwürdiges Zeichen mit spitzen Zacken. Noch nie in meinem Leben hatte ich so einen Anhänger gesehen. „Ein geheimes Hexenzeichen!“, schoss es mir durch den Kopf. 

Meine Hände begannen zu schwitzen und meine Knie wurden ganz weich. Doch gelang es mir irgendwie weiterzugehen. 

 

Am nächsten Tag zitterte ich bereits, als ich in die Allee einbog. Sanchari stand wieder hinter ihrem Baum. Ich starrte auf den Boden. Diesmal wollte ich nicht mal ihre Füße ansehen. Doch als ich auf ihrer Höhe war, blitzte etwas in der Sonne. 

Ich fuhr erschrocken hoch und da sah ich einen kleinen, silbernen Dolch in ihrer Hand. Vor Schreck stolperte ich über einen Stein und schlug mir das Knie auf. Doch ich spürte keinen Schmerz. Ich dachte bloß: „Die will mich ausrauben! Die will mir an die Kehle mit dem Messer!“ 

Ich sprang auf und ohne mich noch einmal umzudrehen rannte ich fort. Ich rannte und rannte. So schnell wie ich nur konnte. 

 

Am nächsten Morgen war Sanchari – weg. Sie stand nicht hinter ihrem Baum und auch nicht hinter einem der anderen Bäume. Sie war nirgends. Einfach weg. 

Ich atmete auf und ging erleichtert weiter. Als ich an ihrem Baum vorbeikam, wagte ich es sogar, hinter diesen zu schauen. Aber dort war nichts. Kein Zeichen, das sie in die Rinde geritzt hätte. Keine verlorene Kette. Kein Bonbonpapier. Nicht einmal Fußspuren. 

Als wäre sie nie da gewesen. 

 

Auch am Tag darauf war Sanchari nicht da. Bei ihrem Baum blieb ich stehen und schaute in den Wald dahinter. Aber es war nichts zu sehen. Keine weißen Zähne. Kein leuchtendes Rot. Auch kein Aufblitzen ihres Dolches. 

Das Einzige, was in der Sonne schwach blinkte, war der Ring an meinem Finger. 

„Hm“, dachte ich, „vielleicht ist es ja gar kein Dolch gewesen. Vielleicht war es ja bloß ein Ring oder vielleicht ein Armreif, den diese Sanchari getragen hat. Ich habe ja nur ganz kurz hingeguckt. Vielleicht …“ 

 

Am nächsten Morgen war Sanchari auch nicht da. Als ich an ihrem Baum vorbeiging, juckte es mich am Hals. Ich kratzte mich und spürte meine Kette. Meine Lieblingskette, die ich zu meinem Geburtstag bekommen hatte. Der Anhänger ist ein silbernes Herzchen, auf dem ganz klein mein Name steht. 

„Eigentlich langweilig“, fand ich nun, „immer diese Herzchen und Sternchen und Blümchen. Da war der seltsame Anhänger von dieser Sanchari schon was anderes. Zwar irgendwie unheimlich, aber dafür was ganz Besonderes. Da würden die anderen große Augen machen. Vielleicht finde ich ja mal in einem Schmuckladen so einen Anhänger. Vielleicht ...“ 

 

Einen Tag später war Sanchari auch nicht da. Als ich an ihrem Baum vorbeiging, gluckerte es in meinem Bauch. Ich hatte beim Aufstehen getrödelt und deshalb nichts mehr frühstücken können. Jetzt hatte ich Hunger. 

„Vielleicht“, dachte ich, „hat Sanchari mich ja gar nicht angeknurrt. Vielleicht hat bei ihr auch nur der Magen geknurrt. Vielleicht hat sie einfach bloß Hunger gehabt. Sehr dünn war sie ja.“ 

Da musste ich auf einmal leise lachen. Über mich selbst. Weil ich vor einem Mädchen solche Angst gehabt hatte. 

„Vielleicht“, ging es mir da durch den Kopf, „hat Sanchari mich gar nicht angefletscht mit ihren Zähnen. Vielleicht hat sie nur versucht zu lächeln. Auf jeden Fall waren ihre Zähne bestimmt nicht größer als meine. Ja, vielleicht hat sie wirklich gelächelt. Vielleicht ...“ 

 

Auch am nächsten Morgen war Sanchari nicht da. Als ich an ihrem Baum vorbeiging, kitzelte es mich in der Nase und ich musste niesen. Da ich kein Taschentuch hatte, musste ich anschließend ständig die Nase hochziehen. 

„Ist genauso, als würde ich die Nase rümpfen“, dachte ich. „Vielleicht hat Sanchari ja gar nicht die Nase gerümpft. Vielleicht hat sie bloß geschnieft. Vielleicht hat sie Schnupfen. Wahrscheinlich war ihre Nase deshalb so rot. Na ja, und gebogen war sie höchstens ein bisschen. Vielleicht wollte sie ein Taschentuch von mir.“ 

Als ich weitergehen wollte, flog mir eine Fliege ins Auge. Das Auge fing an zu tränen. Ich rieb so lange daran, bis die Fliege draußen war. 

Dabei musste ich an Sancharis schwarze Augen denken. Und an ihren Blick, mit dem sie mich verfolgt hatte. In der Erinnerung fand ich ihre dunklen Augen gar nicht mehr zum Fürchten. 

„Vielleicht“, dachte ich, „war ihr Blick überhaupt nicht böse, sondern eher – traurig. Vielleicht ...“ 

 

Den nächsten Tag war Sanchari auch nicht da. Ob sie nie wieder kommt? Als ich an ihrem Baum vorbeiging, wehte mir plötzlich der Wind die Haare ins Gesicht. Ich habe einfach nur braune Haare. Wie die meisten in meiner Klasse. Irgendwie fand ich braun auf einmal langweilig. 

„Die leuchtend roten Haare von Sanchari“, dachte ich, „die sehen dagegen viel lustiger aus. Warum hat sie so traurig geguckt? Vielleicht hat sie Angst vor mir und versteckt sich irgendwo im Gebüsch.“ 

Ich blieb stehen und rief ganz leise ihren Namen: „Sanchari ...?“ 

 

Am nächsten Morgen war Sanchari auch nicht da. „Schade“, dachte ich, „wahrscheinlich sehe ich sie nie wieder.“ 

Aber als ich an ihrem Baum vorbeiging, rief ich nach allen Seiten ganz laut: „Sanchari! Sanchari!“ 

Es kam keine Antwort. Auch nicht an den nächsten Tagen. Aber immer noch laufe ich jeden Morgen zu ihrem Baum und rufe ihren Namen. Diesen hübschen Namen. Sanchari. 

Vielleicht steht sie ja eines Tages wieder da. Wenn sie einmal wieder da steht, werde ich sie ansprechen. Vielleicht werden wir richtig gute Freunde. Vielleicht ... 

 

Kniereiters Höllenfahrt ohn’ Ende

 

Ihr alle kennt dies Lied:

 

„Hoppe, hoppe Reiter

wenn er fällt, dann..." – und so weiter

"Fällt er in den Sumpf 

macht der Reiter plumps.“

 

Doch wie kann das Lied nur enden dort

wo im Grunde alles erst beginnt?

Denn wenn man mutig sich besinnt,

ist pralle Welt am Sumpfesort. 

 

Sein Blick, der war gewiss nicht dumpf –

ich mein den Reiter, der da fiel.

Nein, nein, er traf genau sein Ziel.

Mit Absicht hupft’ er in den Sumpf.

 

Ihr wollt wissen, was geschah?

Er fand es schön, ja zum Enzücken,

in neue Welten konnt’ er blicken.

Ich erzähl’s euch – kommt ganz nah:

 

Zunächst kann er nur fühlen, wie munkelnde Unken schunkeln in dieses Sumpfes Dunkel.

Es schmatzt und schwatzt und garstig lacht’s in dieser schwarzen Nacht,

als er hastend durch saftenden, haftenden Matsch hinab nun watet,

wobei grappschende, klatschende Maden wabernd ihn belabern.

Und schlotternd stolpert er durch rot lodernden, brodelnden Moder

und im Innern wimmernd sieht er in der Tiefe giftig riechende Viecher.

Da steigt Rauch aus eines faulenden Gaules Maul

und hinab taucht er sausend in einen rauchenden, fauchenden Schlauch

hinab durch schäumend sich bäumende Räume voll heulender Eulen

und – und landet weich in keimigem, leimigem Schleim mit seinem Bein.

 

Und da! Da sieht er sie stehen im Rund.

Sie grölen, ächzen, einige zischen,

sie tanzen mit dreibeinigen Fischen

die grausigen Sechs im Höllenschlund.

 

Der Grolch, den einst der rote Molch erdolcht.

Der Zilch, der Knilch, der kocht die Silbenmilch.

Der Knackel mit dem sagenhaften Wackeldackel.

Die Melex, die kecke Hex’, hat am Po der Zecken sechs

und glühende Gurken schlürft der Schlurgel mit blutend wunder Gurgel,

indes auf seinem Kugeldudelsack spielt der glucksende Glugelzack

eine krause Melodei – gack, gack

 

Doch müsst ihr euch nicht ängstigen.

Der Reiter, der lachte sich schief und krumm:

„Ich bleibe hier – bin doch nicht dumm!

Die Mutter wird sich schon besänftigen.“

 

Drum: falls ihr jemals wieder reitet

auf irgendwelchen Tantens Knie,

lasst fallen euch mit Phantasie

und eine neue Welt wird euch bereitet

(falls ihr nicht allzu zartbesaitet).

Der Marienkäfer

 

Fest entschlossen war

ein kleiner Marienkäfer,

sein Geld sich zu verdienen

in Zukunft als ein Schäfer.

 

Ging und lernte in

der Lüneburger Heide

so richtig offiziell

was Schaf, was Bock, was Weide.

 

„Ich bin jetzt ein Schäfer!“

so brüllt er an zehn Schafe.

„Ihr macht dort drüben Rast

und legt euch sofort schlafen!“

 

Streng und grimmig blickt er

den Schafen ins Gesicht.

Doch die geh’n einfach weiter.

Das kommt, sie seh’n ihn nicht.

 

Ach, es ist am Ende

hier Hopfen und Malz verloren.
Ein Käfer ist wohl doch

zum Schäfer nicht geboren.


 

Das Nashorn auf der Kirchturmspitze 

 

Ein Nashorn, sitzend auf der Kirchturmspitze, 

erzählte Kühen irre Witze. 

Doch die hingegen, ganz verstockt, 

haben glotzend bloß sich hingehockt. 

 

„Was? Ihr wollt partout nicht lachen? 

Muss ich das denn auch noch machen? 

Wenn ihr dumm seid wie die Kälber, 

lache ich halt selber!“ 

 

Das Nashorn kichert leis‘ „Hi hi“, 

da fällt es plötzlich – irgendwie. 

Im Fall noch lacht es laut „Ho ho“ 

und landet unsanft auf dem Po. 

 

Es schlich sich weg, ganz schamesrot, 

überließ die Kühe ihrer Not. 

Die grübeln heute noch im Schneidersitze: 

„Wie kam das Nashorn auf die Kirchturmspitze?“ 


 

Der Schneemann 

 

Ein großer, dicker Schneemann 

der wollte werden Seemann. 

Doch als er fuhr zur See dann, 

verfing er sich im Seetang. 

Wurd’ nimmer mehr geseh’n dann.