Peter Friedrich 

Autor




 „Man muss nicht hinter alle Geheimnisse kommen wollen. …Ist es nicht schön, dass in unsrem Dasein so manches fremd und seltsam bleibt, wie hinter Efeumauer?“
                                                                                               
Robert Walser 



Ein wenig soll hinter der Efeumauer über Peter Friedrich und sein Schreiben doch erkennbar werden ...

Vita

Peter Friedrich, 1965 geboren in Wadern/Saarland, studierte in Freiburg Biologie, promovierte in Greifswald und lebt mittlerweile in Frankenthal /Rheinland-Pfalz. Bereits in seiner Jugend fand er, zunächst über die Malerei, zum Schreiben und so sind auch heute noch sehr oft Bildideen der Ausgangspunkt seiner Geschichten. Er schreibt Romane und Kurzprosa – für Erwachsene und Kinder. Seit 2009 hat er zahlreiche Kurzgeschichten in Literaturzeitschriften veröffentlicht. Peter Friedrich wurde für seine schriftstellerische Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Zweimal war er Stipendiat des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg.

 

Gelegentlich hält Peter Friedrich sich für einen Literat, gelegentlich jedoch auch für einen Spießer. Deshalb an dieser Stelle noch einmal Robert Walser:


„So enervierend dessen Verdummung manchmal wirke, so sei der Spießer doch noch lange nicht so unerträglich wie der Literat, der glaube, ihm sei die Aufgabe übertragen worden, die Welt Mores zu lehren.“

Veröffentlichungen


Created with Sketch.
  • Kafkarabesken oder Die Ermittlungen. Roman. Duotincta-Verlag, 2025 (ISBN 978-3-946086-88-8)
    https://duotincta.de/kulturgut/kafkarabesken-oder-die-ermittlungen/
  • seit Dezember 2017 erscheinen 15 Kurzgeschichten im Smart Storys Verlag, eine österreichische Literatur-App mit Kurzgeschichten (smartstorys.at)
  • Schuld und Verdienst (Romanauszug). In: Förderband 21 des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg. 2022
  • Aphorismen. Anthologie zum Aphorismuswettbewerb 2022. Edition Virgines 2022
  • Sanchari, das Mädchen hinterm Baum (Kurzgeschichte). In: Rette sich, wer kann? Der kleine Alltag des Widerstandes in Gedichten, Geschichten und Berichten.Geest Verlag, Vechta 2021
  • Das Missgeschick (Kurzgeschichte). In: An die Schwäne. 51 Beiträge zum 250. Geburtstag von Friedrich Hölderlin. Edition Kanalstrasse 4 2020
  • Kafkarabesken oder Die Ermittlungen (Romanauszug). In: Von Aprikosen und Angsthasen. Förderband 15 des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg. Info Verlag 2016
  • Aphorismen. Anthologie zum Aphorismuswettbewerb 2016. Universitätsverlag Brockmeyer Bochum 2016
  • Die Elite (Kurzgeschichte). In: erostepost. Literaturzeitschrift Nr. 50/2015 (Sondernummer zum Literaturpreis)
  • Die Puppe (Kurzgeschichte). In: Richtungsding. Zeitschrift für Gegenwartsliteratur. Ausgabe IX, 2015
  • Brave New Networld (Kurzgeschichte). In: Literaturzeitschrift „Asphaltspuren“ 22/2014
  • Die kuriose Krankheit (Kurzgeschichte). In: Von einem, der auszog mit Bildern zu schreiben. Kurzgeschichten AUTORiKA. Der Kleine Buch Verlag 2014
  • Die kuriose Krankheit (Kurzgeschichte, vom Autor gelesen). In: Wortadella. Eine Scheibe Karlsruher Literatur. Hörbuch, Autorika 2014
  • Die Krankheit (Kurzgeschichte): In: Trotz alledem. Anthologie zu den vierten Berner Bücherwochen. Geest-Verlag 2013
  • Das Missgeschick (Kurzgeschichte). In: Irrturm. Jubiläumsausgabe, Bremen Nov. 2013
  • 13. Jahresbericht des Ministeriums für gesellschaftliche Klassifizierung. In: Literaturzeitschrift PODIUM (Doppelheft 165/166), Wien Nov. 2012
  • Aphorismen. Anthologie zum Aphorismuswettbewerb 2012. Universitätsverlag Brockmeyer Bochum 2012
  • Die Stiftung oder Die neue Würde (Kurzgeschichte). In: Salz auf den Lippen (Anthologie). Lindemanns Bibliothek, Info Verlag 2012
  • Das Loch in der Brust (Kurzgeschichte). In: Brückenschlag. Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst. Nr. 27/2011
  • Der Kuckuck (Kurzgeschichte). In: entwürfe. Zeitschrift für Literatur 59/2009 
  • Das Loch in der Brust (Kurzgeschichte). In: erostepost. Literaturzeitschrift Nr. 41/2010 (Sondernummer zum Literaturpreis)
  • Ich und der Teufel. (Kurzgeschichte). In: Das Stöhnen im Gebälk. Spukgeschichten. (Anthologie), Balthasar-Verlag, 2010
  • Eine märchenhafte Geschichte (Kurzgeschichte) In: Rossipotti. Unabhängiges Literaturmagazin für Kinder. No. 24/ 2011 (rossipotti.de)
  • Der Ausflug in die Drachenfelsstrasse (Kurzgeschichte). In: Rossipotti. Unabhängiges Literaturmagazin für Kinder. No. 23/ 2010 (rossipotti.de)
  • Die große Ballonfahrt (Kurzgeschichte). In: Rossipotti. Unabhängiges Literaturmagazin für Kinder. No. 22/ 2010 (rossipotti.de)
  • Das Loch in der Brust (Kurzgeschichte). In: DUM – Das ultimative Magazin 49/2009
  • Ich und der Teufel (Kurzgeschichte). In: Dichtungsring. Zeitschrift für Literatur 38/2009
  • Ausschussware. Gedichte und Kurzgeschichten. Sabotage-Verlag 1985 (Selbstverlag, mit Pauli Michels, Thomas Jager und Michael Jacobs)



  • seit Dezember 2017 erscheinen 15 Kurzgeschichten im Smart Storys Verlag, eine österreichische Literatur-App mit Kurzgeschichten (smartstorys.at)
  • Schuld und Verdienst (Romanauszug). In: Förderband 21 des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg. 2022
  • Aphorismen. Anthologie zum Aphorismuswettbewerb 2022. Edition Virgines 2022
  • Sanchari, das Mädchen hinterm Baum (Kurzgeschichte). In: Rette sich, wer kann? Der kleine Alltag des Widerstandes in Gedichten, Geschichten und Berichten.Geest Verlag, Vechta 2021
  • Das Missgeschick (Kurzgeschichte). In: An die Schwäne. 51 Beiträge zum 250. Geburtstag von Friedrich Hölderlin. Edition Kanalstrasse 4 2020
  • Kafkarabesken oder Die Ermittlungen (Romanauszug). In: Von Aprikosen und Angsthasen. Förderband 15 des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg. Info Verlag 2016
  • Aphorismen. Anthologie zum Aphorismuswettbewerb 2016. Universitätsverlag Brockmeyer Bochum 2016
  • Die Elite (Kurzgeschichte). In: erostepost. Literaturzeitschrift Nr. 50/2015 (Sondernummer zum Literaturpreis)
  • Die Puppe (Kurzgeschichte). In: Richtungsding. Zeitschrift für Gegenwartsliteratur. Ausgabe IX, 2015
  • Brave New Networld (Kurzgeschichte). In: Literaturzeitschrift „Asphaltspuren“ 22/2014
  • Die kuriose Krankheit (Kurzgeschichte). In: Von einem, der auszog mit Bildern zu schreiben. Kurzgeschichten AUTORiKA. Der Kleine Buch Verlag 2014
  • Die kuriose Krankheit (Kurzgeschichte, vom Autor gelesen). In: Wortadella. Eine Scheibe Karlsruher Literatur. Hörbuch, Autorika 2014
  • Die Krankheit (Kurzgeschichte): In: Trotz alledem. Anthologie zu den vierten Berner Bücherwochen. Geest-Verlag 2013
  • Das Missgeschick (Kurzgeschichte). In: Irrturm. Jubiläumsausgabe, Bremen Nov. 2013
  • 13. Jahresbericht des Ministeriums für gesellschaftliche Klassifizierung. In: Literaturzeitschrift PODIUM (Doppelheft 165/166), Wien Nov. 2012
  • Aphorismen. Anthologie zum Aphorismuswettbewerb 2012. Universitätsverlag Brockmeyer Bochum 2012
  • Die Stiftung oder Die neue Würde (Kurzgeschichte). In: Salz auf den Lippen (Anthologie). Lindemanns Bibliothek, Info Verlag 2012
  • Das Loch in der Brust (Kurzgeschichte). In: Brückenschlag. Zeitschrift für Sozialpsychiatrie, Literatur, Kunst. Nr. 27/2011
  • Der Kuckuck (Kurzgeschichte). In: entwürfe. Zeitschrift für Literatur 59/2009 
  • Das Loch in der Brust (Kurzgeschichte). In: erostepost. Literaturzeitschrift Nr. 41/2010 (Sondernummer zum Literaturpreis)
  • Ich und der Teufel. (Kurzgeschichte). In: Das Stöhnen im Gebälk. Spukgeschichten. (Anthologie), Balthasar-Verlag, 2010
  • Eine märchenhafte Geschichte (Kurzgeschichte) In: Rossipotti. Unabhängiges Literaturmagazin für Kinder. No. 24/ 2011 (rossipotti.de)
  • Der Ausflug in die Drachenfelsstrasse (Kurzgeschichte). In: Rossipotti. Unabhängiges Literaturmagazin für Kinder. No. 23/ 2010 (rossipotti.de)
  • Die große Ballonfahrt (Kurzgeschichte). In: Rossipotti. Unabhängiges Literaturmagazin für Kinder. No. 22/ 2010 (rossipotti.de)
  • Das Loch in der Brust (Kurzgeschichte). In: DUM – Das ultimative Magazin 49/2009
  • Ich und der Teufel (Kurzgeschichte). In: Dichtungsring. Zeitschrift für Literatur 38/2009
  • Ausschussware. Gedichte und Kurzgeschichten. Sabotage-Verlag 1985 (Selbstverlag, mit Pauli Michels, Thomas Jager und Michael Jacobs)


Leseproben

Die Legende

Der mysteriöse Freitod des umstrittenen Bibelforschers Samuel T. Ruth veranlasst mich, seine wichtigste und zugleich seltsamste Arbeit einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Bevor er diese Arbeit 2006 auf eigene Kosten in geringer Auflagenzahl veröffentlichte, galt er in der internationalen Fachwelt bereits als Außenseiter, doch nach diesem Privatdruck erklärten ihn alle Kollegen schlichtweg für unzurechnungsfähig. Im Nachhinein scheint die grausige Art und Weise seines Selbstmordes (blutüberströmt, mit durchgeschnittener Kehle, das Messer von der rechten Hand fest umschlossen, fand man ihn auf einem Hügel unweit seines Hauses) die These seiner geistigen Verwirrtheit zu bestätigen.

Dabei galt er zu Beginn dieses Jahrtausends als vielversprechender Nachwuchswissenschaftler. Mit einer bemerkenswerten Promotion an der Yale University[1] hatte er sich im Jahr 2000 einen Namen gemacht. 2001 wurde er als Mitarbeiter in den erlauchten Kreis der Forschungsgruppe von Emanuel Tov aufgenommen, welche in Israel die Qumran-Schriftrollen untersucht. Jene legendären, 1947 in Felshöhlen am Toten Meer gefundenen Schriftrollen aus der Zeit von 250 v.Chr. bis 70 n.Chr..

Nur einige Monate später verkündete er auf der 7. International Conference on the Dead Sea Scrolls in London am 11. September 2001, einige stark zerstörte Fragmente der Qumran-Rollen auf das 9. vorchristliche Jahrhundert datiert zu haben. Diese wären somit sechshundert Jahre älter als alle bisher bekannten Bibelhandschriften. Es kam zum Eklat, da er die empfindlichen Fragmente ohne Erlaubnis einer Röntgen- sowie Radiokarbon-Untersuchung unterzogen hatte.

Das Team um Emanuel Tov untersuchte alle Fragmente, die Samuel T. Ruth zugeteilt waren, konnte aber für keines das von ihm behauptete Alter verifizieren, weshalb man seinen Auftritt auf der Konferenz bald als einen Fall krankhafter Geltungssucht abtat. Für Samuel T. Ruth bedeutete es natürlich das Aus seiner wissenschaftlichen Karriere. Gelegentlich veröffentlichte er noch Artikel in randständigen Publikationsorganen, doch in der Fachwelt nahm ihn keiner mehr ernst und spätestens nach seinem Privatdruck von 2006 sah jeder in ihm nur noch einen Fall für den Psychiater – auch ich selbst.

Als ich allerdings nun, nach seinem Tod, aufgrund einiger Zufälle die Gelegenheit bekam, seine Privatbibliothek und seine Papiere zu sichten, bin ich auf Indizien gestoßen, die mich an meiner Meinung über Samuel T. Ruth und seinen Privatdruck zweifeln lassen.

In diesem Privatdruck behauptete er, die fraglichen Fragmente nach der Konferenz in London an sich genommen und in mühevoller Arbeit rekonstruiert und entziffert zu haben. Doch als sei dies noch nicht spektakulär genug, bezeichnete er das Fragment als ein Palimpsest, eine Pergament- oder Papyrusseite, die neu überschrieben wurde, nachdem man den ursprünglichen Text abgeschabt hatte.

Die Überschreibung, so Samuel T. Ruth, welche wortgetreu die bekannte Version der Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham (1. Buch Moses, Kapitel 22) widergebe, stamme aus dem ersten Jahrhundert n. Chr., passe also zur Entstehungszeit der übrigen Qumran-Texte, das abgeschabte Pergament jedoch sei eindeutig im neunten Jahrhundert v. Chr. hergestellt worden. Und er, Samuel T. Ruth, habe mittels Fluoreszenzphotographie den ursprünglichen Text wieder lesbar gemacht.

Noch abenteuerlicher mutet schließlich seine Übersetzung dieses ältesten Bibeltextes an, denn der Text stellt die Geschichte der Opferung Isaaks in ketzerischer Weise auf den Kopf.

Die originalen Fragmente waren in den Arbeitsräumen Samuel T. Ruths nicht zu finden. Eine Überprüfung der Datierung mit Methoden der Paläographie ist daher nicht möglich. Auch nicht indirekt über die Übersetzung, denn Samuel T. Ruth hat sich in seinem Privatdruck in bewusster Abgrenzung vom Wissenschaftsbetrieb explizit an eine nicht-wissenschaftliche Leserschaft gewandt und sich bei der Übersetzung die größtmögliche Freiheit erlaubt. Es gibt also keinen einzigen Beweis für die Existenz dieses Palimpsestes gibt. Somit ist jeder Leser gezwungen, sich selbständig, ohne Auslegungshilfe von Experten, ein Bild über die im Folgenden abgedruckte Übersetzung von Samuel T. Ruth zu machen.

 

Dies ist die wahre Geschichte von Isaaks Opferung.

Als Isaak aufwuchs, hörte er unzählige Male aus dem Munde seines Vaters Abraham die Geschichte seiner von einem Engel Gottes verhinderten Opferung. In den Jahren seiner Kindheit empfand er Stolz, Teil einer wahrhaft göttlichen Geschichte zu sein. Erst in der Jugend irritierte ihn hin und wieder ein Zittern in den Augen seines Vaters. Ein Vorwurf lag in diesem Blick Abrahams und auch wenn Isaak nicht verstand, so fühlte er doch: Ich habe kein Recht, hier zu sein, ich bin kein rechtmäßiger Erbe dieses Stammes.

Nach und nach gestand Isaak sich auch die Stumpfheit ein, die er verspürte, wenn sein Vater ihn über Gott unterrichtete. Stumm flatterten die Worte aus des Vaters Mund auf ihn zu und zerfielen wie morsches Pergament vor seiner Stirn zu Staub. Er schämte sich und ahnte eine tiefe Schuld.

Eines Abends, als er in dunklen Gedanken verfangen vor dem Feuer saß, spürte er den Blick des Vaters auf sich ruhen. Und da, als Isaak die Augen aufschlug, da fuhr die Erkenntnis wie ein Zeichen Gottes in ihn: Der Vorwurf im Blick Abrahams galt nicht ihm. Er, Isaak, war für den Vater lediglich ein Spiegel. Und noch mehr entdeckte Isaak nun im Blick des Vaters. Scham und Angst. Angst vor seiner, vor Isaaks Erinnerung. Mit einem Mal fielen die Bilder, die in Isaaks Erinnerung so deutlich mit der Erzählung Abrahams verbunden gewesen waren, in sich zusammen. Der Einhalt gebietende Engel wurde schemenhaft, löste sich auf und entpuppte sich als ein im Mondlicht weiß schimmernder Busch. Der heroische Vater, mit dem erhobenen Messer vor dem Opferaltar stehend, sank in sich zusammen, ließ das Messer zu Boden fallen und bedeckte Isaaks Gesicht mit Tränen und Rotz.

Abraham hatte gelogen. Kein Engel hatte seine Hand mit dem Messer aufgehalten. Abraham war zu schwach gewesen, hatte Gottes Befehl missachtet. Und dann, weil er die Schande nicht ertragen konnte, auf dem Heimweg diese Legende ersonnen, die aus dem Versager einen Helden machte.

Isaak stürzte in tiefe Verzweiflung. Wer erträgt es schon, auf seinen Gott, auf seinen Vater herabzublicken. Vierzig Tage verstummte er und irrte in der Wüste seines Inneren umher, kämpfte mit den Dämonen der Ausflüchte und der falschen Liebe. Doch besiegte Isaak all diese Dämonen und kehrte geläutert und gereinigt aus der Wüste zurück.

Nun verstand Isaak, warum ihm die Worte, mit denen der Vater ihn früher von Gott unterrichtet hatte, trocken und dürr, wie schleppende Schritte in verwelktem Laub geklungen hatten. Denn es gibt nur einen einzigen Gott und der Versuch Abrahams, sich durch eine Legende einen eigenen Gott nach seinen Vorstellungen zu erschaffen, war ein gotteslästerlicher Frevel. Alle Zweifel waren nun von Isaak genommen. Er war nicht mehr fremd, ausgestoßen, nun war er ein Auserwählter. Er würde die von Abraham mit Blindheit geschlagene Menschheit wieder sehend machen. Er nahm die Bürde auf sich, die der Vater in seiner Schwäche von sich gewälzt hatte.

Ein einfaches, einsames Opfer genügte nun nicht. Er musste ein Zeichen setzen. Ein weithin sichtbares Zeichen. Isaak scharte im Stillen Anhänger um sich, die er über die Wahrheit Gottes belehrte. Als ihm die Zahl seiner Anhänger gewaltig genug erschien, ging er mit ihnen auf den Berg Morija. Jeder seiner Anhänger nahm ein oder zwei Ungläubige mit, die auf ihre Reden mit Zweifeln oder gar Widerspruch reagiert hatten. Diese nahmen sie mit Gewalt, gefesselt und geknebelt, denn wenn der Herr befiehlt, gibt es keine Gewalt, sondern nur Einfügung.

Auf dem Gipfel fegte Isaak den Staub von dem Altar, der all die Jahre geduldig gewartet hatte. Er stellte sich auf den Altar, das Messer in der erhobenen Hand. Seine Anhänger mit ebenfalls erhobenen Messern auf ihren Opfergaben kniend und auf sein Zeichen wartend.

Einen kurzen Moment fragte er sich, ob sein Vater, wenn er gleich die Blutströme den Berg hinunter fließen sähe, stolz auf ihn sein würde, oder ob die Scham über die eigene Schwäche ihn zu Boden werfen würde. Doch dann vergaß er den alten, verfallenden Vater und dachte nur noch an seinen, den einzigen Gott.

Und deshalb, da er im Moment der Tat nur an Gott dachte, überfiel ihn keine Schwäche, er war nur noch in Gott, war ein Werkzeug Gottes und vollführte lediglich die von Gott befohlene und verantwortete Tat. Mit einem kraftvollen Zug schnitt er seine Kehle durch. Und noch während sein Blut warm und dampfend in einer mächtigen Fontäne aus seinem Hals schoss und sich über den Altar und den Berggipfel ergoss, schauten seine Augen tief hinab in das Tal seines Vaters Abraham.


[1] Morphological abnormalities of paleo-hebrew characters in parabiblical texts. Yale University Press, August 2000

 

Die Krankheit   (Kurzgeschichte sowie Kapitel des Romans "Kafkarabesken oder Die Ermittlungen") 

Ich habe mich lange geweigert, mir meine Krankheit einzugestehen. Ich könnte nicht sagen, wann meine Augen das erste Mal registrierten, dass die Spitze des rechten kleinen Zehs ein klein wenig abgeplatteter war als sonst. Selbst als der Zeh bereits an der Spitze des Zehennagels endete, versuchte ich es nicht zu beachten. 

Doch nachdem der Zeh nur noch halb so groß war wie der linke, begann die Sache mich zu beunruhigen. Was mich irritierte, war die Tatsache, dass der Zeh nicht insgesamt geschrumpft war, sondern die obere Hälfte einfach fehlte. Deshalb ging ich auch nicht zum Arzt. Es erschien mir lächerlich, einem Arzt diesen halben, aber eben völlig gesund aussehenden Zeh zu zeigen. Ich fand, ich hätte wegen solch einer Lappalie kein Anrecht auf ärztliche Aufmerksamkeit. 

Wirklich belastend wurde es erst, als sich das Gefühl der Peinlichkeit einstellte. Der Zeh war mittlerweile gänzlich weg und trotz des heißen Sommers zog ich keine Sandalen mehr an. Dass ich zu diesem Zeitpunkt schon diese übertriebene Scheu empfand, lag darin begründet, dass ich das Fehlen des Zehs nicht mit einem Unfall oder einem angeborenen Defekt hätte rechtfertigen können. Das Unverständliche war Ursache des Schamgefühls. 

Hinzu kam, dass mittlerweile auch der zweite äußere Zeh zu schmelzen begann und dies nun wirklich kurios aussah. Ich besorgte mir medizinische Bücher, doch ich fand keine Erklärung. Alle Krankheiten, die mit dem Verlust von Gliedmaßen einhergehen, sind mit Fäulnisprozessen verbunden. Mit schwarz werdendem Fleisch, mit eitrigem Schleim und mit Gestank. Bei mir dagegen sah alles natürlich, makellos aus und ich fühlte mich – im Grunde – pudelwohl. Wie hätte ich so zum Arzt gehen können! 

Als der rechte Fuß bis auf die Ferse verschwunden war, wurde es schwierig, meinen Defekt zu verbergen. Ich besorgte mir Krücken und schützte überall eine komplizierte Operation an den Gelenkbändern vor. Aus Draht und Pappmaché bastelte ich eine Attrappe, die ich mit Bandagen umwickelte und mittels Holzschienen am Bein befestigte. 

Leichte Panik ergriff mich, als es auch an der linken Hand anfing. Ich zog einen Handschuh an, aber im Büro löste das verständlicherweise Befremden aus. Ich stotterte zwar eine Erklärung über eine unangenehme Hautkrankheit, doch merkte ich, dass man mir spätestens jetzt misstraute. Erst die Krücken und das steife Bein, dann dieser Handschuh! Meine Position in der Firma, zuvor durch kollegiales Wohlwollen, wenn nicht gar Respekt gesichert, geriet ins Wanken. 

Bevor die Finger der linken Hand verschwanden, bastelte ich vorausschauend eine Handattrappe. Trotzdem kündigte ich kurz darauf. Das Versteckspiel mit zwei Attrappen wurde einfach zu anstrengend. 

Um mein Auskommen machte ich mir keine Sorgen. Die Dauerüberweisung für die monatliche Miete ist noch für längere Zeit gewährleistet und für meine Ernährung benötigte ich schon damals nicht mehr allzu viel. Mit abnehmender Körpermasse sinkt auch die zum Leben notwendige Nahrungsaufnahme. 

Als der linke Arm bis zum Ellenbogen weg war, log ich meinem Wohnungsnachbarn etwas von einer schweren Diabeteserkrankung vor, die eine Amputation des Armes unvermeidlich gemacht hätte. Trotzdem deponierte ich nach diesem Gespräch in größerem Umfang dauerhaft haltbare Nahrungsmittel in meiner Wohnung, um diese kaum noch verlassen zu müssen. 

Auf der anderen Seite muss das Verhalten dieses Nachbarn – er klingelte gelegentlich bei mir und fragte, ob er für mich Besorgungen machen solle – mich weich gestimmt haben. Eines Tages, er hatte wieder einmal geklingelt, vergaß ich plötzlich all mein Schamgefühl und erzählte ihm vom wahren Wesen meiner Krankheit. Ich geriet in Eifer, begann mein Jackett auszuziehen, um ihm meinen makellosen, narbenfreien Armstumpf – mehr als ein kleiner Stumpf, der kaum noch aus der Schulter ragte, war es nicht mehr – zu zeigen. Verständlicherweise zog er sich schnell, aber trotz allem äußerst höflich zurück. 

Immerhin mied er mich seit diesem Tag. Durch die geschlossene Tür, durch die Wände spürte ich seine wachsende Scheu. Und wie sollte er nicht Scheu, Abneigung, Ekel verspüren angesichts meiner Krankheit. Um ihn nicht weiter in Verlegenheit zu bringen, teilte ich ihm in einem Brief mit, ich sei zu einem längeren Kuraufenthalt gefahren. 

Seitdem habe ich meine Wohnung nicht mehr verlassen und bewege mich nur noch leise kriechend. Das Gewicht des Körperrumpfes ist mittlerweile gering genug, um vom verbliebenen rechten Arm über den Boden gezogen zu werden. Ein Problem schien sich mir aufzutun, als es mir nicht mehr gelang, mich auf die Toilette hochzuziehen. Doch beruhigte ich mich bald, denn die Menge der Ausscheidungen, die ich seit dem auf dem Boden des Badezimmers verteile, ist entsprechend meiner Nahrungsaufnahme kaum noch der Rede wert und wird wohl kein hygienisches Problem darstellen. 

Schmerzen sind mit meiner Krankheit nicht verbunden. Wahrscheinlich war dies auch ein Grund dafür, warum ich nie zum Arzt ging. Worüber hätte ich denn klagen sollen? All meine Körperränder sehen makellos aus. Sie strahlen regelrecht Gesundheit aus. Als mein Körperrumpf bis auf die Hälfte geschmolzen war und in einem sanften Bogen von der linken Schulter zur rechten Hüfte abschloss, vertiefte ich mich oft stundenlang in die Schönheit dieser ungewöhnlichen Körperbegrenzung. Es gab – wie gesagt – keine Wundränder, keine Rötung, keine Haut- oder Fleischfetzen, keine Risse, Schrammen. Die Ränder meines Körpers sahen in ihrer Natürlichkeit berauschend schön aus. 

Um mir die Zeit zu vertreiben, verfiel ich schließlich auf die Idee, diesen Bericht zu schreiben. Das Schreiben mit nur einer Hand, einem Arm auf dem Fußboden ist mühsam, doch so habe ich mein Tun, habe etwas, das mich diszipliniert. Ich kann nicht sagen, ob es Zufall ist, dass die rechte Hand so lange unangetastet blieb von der Krankheit. Erst nachdem der Körperrumpf bis auf ein schmales Stück der rechten Schulter, welches den Kopf mit dem Arm zusammenhält, geschmolzen war, begann sich der kleine Finger der rechten Hand zu verkleinern. Mit mittlerweile nur noch zwei Fingern ist das Schreiben kaum noch möglich. Immer öfter rutscht der Stift aus den Fingern. Geduldig – geduldig sehe ich auf das Blatt und versuche, weiter z 


 

Die Mission  (Kurzgeschichte sowie Kapitel des Romans "Kafkarabesken oder Die Ermittlungen")

Ich war mir sicher: Irgendetwas musste mich gezeichnet haben, denn ohne Grund wurde ich von den Freunden aus dem Zelt geworfen. Wir hatten uns verschätzt, das Zelt im Garten eines der Freunde hatte beim besten Willen nur Platz für sechs Matratzen – doch wir waren sieben. Eine Weile hatten wir eng beieinander im Zelt gesessen und das Problem besprochen, Witze darüber gemacht, als Kai plötzlich verkündete: „Der Franz muss raus.“ 

Ich fand keinen Grund für diese Entscheidung – ich hatte mich nie als Außenseiter in unserer Gruppe empfunden; auch war mein Bruder über ein Jahr jünger als ich und damit der weitaus Jüngste, der manchmal durchaus lästige „Kleine“. Vielleicht, so dachte ich, war es einfach nur, weil ich dem Zeltausgang am nächsten saß. Doch schien mir dies schon damals als Begründung nicht wirklich plausibel. Trotzdem war mir sofort klar, dass diese Entscheidung die einzig mögliche war. Ich musste gehen, nicht einer der anderen. Daher wunderte es mich auch nicht, dass niemand Kai widersprach. 

Auch ich widersprach nicht. – Natürlich: Ich heulte und verfluchte die anderen, als ich nach einem Moment betretener Stille aufsprang und aus dem Zelt stürzte. Doch dieses Heulen und Schimpfen war nur ein kindlicher Reflex, kein wirklicher Widerspruch, kein Protest. Was sollte auch Widerspruch gegen eine unabänderliche Tatsache? 

An diesem Tag erwachte ich aus meinen kindlichen Träumen und erkannte, dass ich gezeichnet war. Wie naiv muss ich gewesen sein, dass ich bis dahin die ständigen Blicke auf mich nicht bemerkt hatte, das Getuschel der Klassenkameraden hinter meinem Rücken, das ironische Lächeln der Lehrer, wenn ich eine Frage stellte. Alle wussten Bescheid, nur ich hatte bis zu diesem Tag die Augen verschlossen. Selbst mein kleiner Bruder wusste Bescheid, sonst hätte er am nächsten Tag auf die Frage der Eltern, warum ich nicht mit im Zelt geschlafen habe, kaum mit einem lapidaren „Es war halt kein Platz mehr im Zelt“ geantwortet. Jetzt verstand ich auch, dass die Eltern auf eine solche Antwort nur mit einem Achselzucken reagieren konnten. Oder war es nicht sogar ein erleichtertes Aufatmen? 

Ab diesem Tag erkannte ich auf Schritt und Tritt die verwunderten Blicke wildfremder Leute, das Kopfschütteln. Ich versuchte mich zu verstecken so gut es ging, senkte den Blick, schaute an den Leuten vorbei, sprach mit immer leiserer Stimme, wenn es sich nicht überhaupt vermeiden ließ zu sprechen. Doch ich spürte, dies genügte nicht. 

Das Wissen um mein Ungenügen nagte an mir, machte mich ratlos. Manchmal bäumte sich etwas auf in mir, dann stand ich stundenlang vor dem Spiegel und versuchte herauszufinden, wodurch ich gezeichnet war, woran mich alle erkannten. Stundenlang betrachtete ich mein Gesicht, obwohl ich genau wusste, diese Suche war unnütz und lächerlich. Nie würde es mir gelingen, in meinem Spiegelbild das zu erkennen, was andere in mir sahen. Ich war nicht eingeweiht, würde es nie sein. 

Ganz deutlich erkannte ich dagegen die zunehmende Ungeduld aller anderen, die immer häufigeren versteckten Hinweise und Aufforderungen. Auf der Straße, in den Zeitungen, im Radio, in den Fernsehnachrichten. Sie quälten mich – diese Aufforderungen; denn offenbar erkannte niemand den Grund für mein Zögern. Ach, liebend gerne hätte ich mich dem Unabänderlichen gefügt, wenn ich nur gewusst hätte wie. Sie überschätzten meine Fähigkeiten. 

Ich war wie gelähmt. Bis zu jenem Tag, an dem ich im Fernseher den Bericht über die Mission sah. Die Weltraummission, welche die Unendlichkeiten des Weltalls erforschen sollte. Eine Expedition ohne Rückkehr. Die Weltraumsonde würde den unendlichen Raum erforschen und die gesammelten Daten zur Erde senden. Immer und immer fort, bis die Signale irgendwann auf der Erde nicht mehr zu empfangen sein würden. Dann hätte sie ihre Mission erfüllt. Offenbar war ich die ganze Zeit sehr unaufmerksam gewesen, hatte mich zu wenig für Weltraumforschung interessiert: Die Mission war immer wieder aufgeschoben worden. Plötzlich stand mein Vater in der Tür, lachte und fragte: „Na, würdest du da gerne mitfahren?“ 

Der Vater hatte das ins Wohnzimmer hinein gesagt und es war gar nicht ersichtlich, ob er mich oder meinen Bruder gemeint hatte. Doch was sollte eine solche Frage mit meinem Bruder zu tun haben? Nein, jetzt wusste ich Bescheid. In dem Fernsehbericht war zwar ausdrücklich von einer unbemannten Mission die Rede, doch die Bilder, in denen ein Techniker für die letzten Kontrollen in den winzigen Innenraum der Weltraumsonde krabbelte, waren für mich Hinweis genug. Auch die Tatsache, dass mein Vater vor einigen Wochen ein Poster über unser Sonnensystem im Flur aufgehängt hatte – mit der Bemerkung, er müsse doch irgendwie unser Interesse an den Naturwissenschaften wecken (ja, natürlich sagte er ,unser‘ und nicht plump ,dein Interesse‘) – auch diese Tatsache machte jetzt Sinn. 

Noch in der gleichen Nacht ging ich. Ich nahm mir alles Geld aus der Geldbörse, die aufgeklappt neben der Handtasche meiner Mutter auf dem Küchentisch lag. Sie enthielt erstaunlich viel Bargeld. Dieses Hinweises hätte es nicht mehr bedurft, aber ich war dankbar, denn es erleichterte mir die lange Reise doch enorm. Dass mir die Reise so problemlos gelang, ich als Kind durch alle Kontrollen und Grenzübergänge hindurchschlüpfte, wunderte mich nicht. Wäre es doch widersinnig gewesen, mich jetzt zu behindern. Außerdem hatte ich gelernt, mich unscheinbar zu machen. 

Auch die Sicherheitssperren auf dem Weltraumbahnhof überwand ich ohne Schwierigkeiten. Mir war klar, dass diese Sperren nur dazu dienten, den Schein zu waren. Glatt und weiß stand die Rakete, welche die Sonde in den Weltraum befördern sollte, schließlich vor mir. Ich zögerte, doch nur kurz, denn wie ein Vibrieren der Luft fühlte ich die Ungeduld um mich herum. Ich spürte die Blicke unzähliger Techniker auf meinem Rücken, als ich die Leiter zu der kleinen Luke der Weltraumsonde bestieg. Die Blicke machten mich nervös, meine Hände begannen zu schwitzen, doch ich drehte mich nicht um. Ich kroch durch die Luke und verschloss sie von innen. Ich atmete auf. 

Das Innere ist nur durch eine kleine Lampe erleuchtet, die ein fahles, gräuliches Licht wirft. Mühsam zwängte ich mich durch Kabelschächte, bis ich zu einer Stelle kam, an der ich gerade genügend Platz fand, mich in halb liegender, aber bequemer Stellung hinkauern zu können. Ich schaute mich um. Nirgendwo fanden sich Armaturen, Hebel, Knöpfe, Schalter. Wozu auch?  Nur über meinem Kopf befand sich ein roter Knopf, der unentwegt blinkte – auffordernd, lockend. Ich lehnte den Kopf zurück und spürte eine tiefe Erleichterung. Nur meine Hand zitterte leicht, als ich sie hob und mit dem Zeigefinger den Knopf drückte. 

Ich weiß nicht, wie viele Tage dies nun her ist und ich könnte nicht sagen, aus welchem Bedürfnis heraus ich dies alles mit Hilfe einer Tastatur, die ein Techniker hinter dem Kabelgewirr offensichtlich vergessen hatte, eingetippt habe. Die Sender der Weltraumsonde werden sicherlich nicht dazu da sein, dies der Erde zu übermitteln. 


 

Die Stiftung oder Die neue Würde  (Kurzgeschichte)

 Wir sind heute hier versammelt, um Abschied zu nehmen von Ingeborg Hauser, die so früh von uns gegangen ist. Zu früh, werden Sie, verehrte Trauergäste sagen, denn sie hinterlässt eine schmerzliche Lücke. 

Ja, Sie haben Recht, sie hinterlässt eine Lücke, denn sie war uns allen ein Vorbild. Und solche Vorbilder gibt es nur allzu wenige in der heutigen Zeit. Dass dieses Vorbild nicht mehr unter uns weilt, muss tiefe Trauer auslösen. Wir müssen diese Trauer respektieren, müssen sie zulassen und uns ihr eine Zeit lang hingeben. Doch – liebe Trauergemeinde – wir dürfen nicht in ihr versinken. Lasst uns daher nicht an das denken, was wir durch das frühe Hinscheiden Ingeborg Hausers verlieren, sondern an das, was sie uns in ihrem Leben und noch viel mehr durch ihren Tod gegeben hat. Kraft und Zuversicht sollten wir dadurch gewinnen. Sie wollte uns ein Vorbild sein – nein, sie war – sie ist uns ein Vorbild. Dürfen wir sie nun enttäuschen? Soll ihr Tod, ihr ganzes Leben umsonst, unnütz gewesen sein? Ich weiß, in dieser Stunde ist es für Sie, liebe Trauergemeinde, schwer, das Positive zu sehen, nach vorne zu blicken. Doch Ingeborg Hauser wollte genau dies: dass Sie – dass wir alle zuversichtlich nach vorne, in eine bessere Zukunft schauen können. 

Ingeborg Hauser hat sich nach einer kurzen Zeit des trotzigen Rückzugs aus der Gesellschaft doch noch als ein würdiges Mitglied dieser unserer Gesellschaft erwiesen und deshalb sollten auch wir mit Würde ihrem Tod begegnen. Denn wo, verehrte Trauergäste, kann sich das Recht auf ein Leben in Würde deutlicher offenbaren als in diesem letzten, schweren Weg eines jeden Menschen? Diesen Weg in Würde zu gehen und durch diese Würde zum Vorbild für andere zu werden: Kann es ein erfüllteres Leben geben? 

Ingeborg Hauser hatte nicht die Möglichkeiten – sei es aufgrund der Geburt oder äußerer Umstände – nennenswerte Leistungen für die Gesellschaft zu erbringen. Zwar hat sie zeit ihres Lebens einen eisernen Willen gezeigt. Sich immer wieder aufs Neue bemüht, die Grenzen ihrer körperlichen und vor allem geistigen Fähigkeiten zu sprengen. Lange wollte sie sich nicht eingestehen, dass dieser Wille alleine nicht genügt. Dass eine prinzipielle Leistungsbereitschaft dem Wohl der Gemeinschaft kaum dienlich ist, wenn die notwendige Leistungsfähigkeit nicht vorhanden ist. Erst die unvermeidliche und sich schon lange abzeichnende Kündigung durch ihren Arbeitgeber vor einem Jahr hat ihr die Augen geöffnet. Schlagartig wurde ihr bewusst: Niemand braucht sie. 

Wie so viele in ihrer Situation fiel sie in ein schwarzes Loch, in eine tiefe Depression. Sie zog sich zurück, ergab sich dem Alkohol, vegetierte nur noch vor sich hin. Wer ihr in dieser Zeit begegnet ist, wird mir zustimmen: Sie war ein abstoßendes Bild des Jammers. 

Bis – ja, bis sie vor drei Monaten den Weg zu unserer Stiftung fand. Hier, in unserer Stiftung, fand sie neue Kraft, wuchs zum ersten Mal in ihrem nutzlosen Leben tatsächlich über sich hinaus, um schließlich mit diesem letzten Schritt der Gesellschaft den größten Dienst zu erweisen, der sich denken lässt. 

In Demut beugen wir unser Haupt vor ihr, die bereit war, die Hilfe unserer Stiftung in Anspruch zu nehmen. Wie so viele vor ihr, welche im Kontext der sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen als gesamtgesellschaftliche Last zu betrachten waren, welche die notwendige Qualifizierung im Zeitalter der Globalisierung nicht erreichen konnten – sei es aus physischen, psychischen, familiären oder besonderen kulturellen Gründen – hat Ingeborg Hauser mit unserer Stiftung einen Weg gefunden, sich doch noch als würdiges Mitglied unserer Gesellschaft zu erweisen. Unsere Stiftung gab ihr die Kraft, ihren Platz zu räumen, um den Leistungsfähigeren nicht zur Last zu fallen. 

Doch Ingeborg Hauser fand nicht nur Kraft, sondern eben auch Würde. Und dies ist es, worauf wir besonders stolz sind. All diesen Nicht-Gebrauchten ihre Würde zurückzugeben, indem wir ihnen den einzigen Weg aufzeigen, der Gesellschaft ihren Dienst zu erweisen. Einen großen Dienst. Mehr noch – ich möchte sogar so weit gehen, zu behaupten, dass die Mandanten unserer Stiftung der Gesellschaft einen größeren Dienst erweisen als all die Erfolgreichen, die Leistungsträger, die genialen Ingenieure und Entwickler, die Investoren und geschickten Finanzjongleure, die Unternehmensberater und Marketingexperten, die politischen und unternehmerischen Entscheidungsträger. Denn unsere Mandanten erbringen ihre Leistung ohne jede materielle Gegenleistung. Sie streben nicht nach Wohlstand, Macht, Anerkennung und Erfolg. Ihr einziger Antrieb ist die Bereitschaft, sich der Gemeinschaft zu opfern. 

In meinen Augen sind sie die wahren Helden in der heutigen Zeit, sie sind die wahren Patrioten. 

Daher möchte ich Ingeborg Hauser ganz persönlich meinen tief empfunden Dank aussprechen. Ruhe sie in Frieden. 

Nicht versäumen möchte in an dieser Stelle, im Namen unserer Stiftung „Input durch Exitus“ auch all jenen zu danken, die seit Jahren unsere Arbeit großzügig unterstützen: dem Arbeitgeberverband, den Finanzinstitutionen, zahllosen Unternehmen, den Landes- und Bundesbehörden sowie den Kommunen, die uns in gänzlich unbürokratischer Weise die Nutzung der Krematorien ermöglicht. 

Bevor wir nun Ingeborg Hauser das letzte Geleit geben, möchte ich sie noch auf die Anmeldeformulare aufmerksam machen, welche am Ausgang ausliegen. Es war Ingeborgs ausdrücklicher Wunsch, auf ihrer Beerdigung für unsere Stiftung zu werben. Diese einzigartige Frau wollte selbst nach ihrem Tode noch etwas bewirken. Wer sich unter Ihnen also vorstellen könnte, Ingeborg Hausers Beispiel zu folgen, möge sich – natürlich ganz unverbindlich – ein Formular mitnehmen. Er wird in unserer Stiftung herzlich willkommen sein. 

 

Wüste  (Kurzgeschichte)

 Jeder soll glauben,
was er glaubt,
aber keiner soll glauben,
dass er besser glaubt 


Ich glaube, meine Chancen sind nicht schlecht. Mit fünf Wasserflaschen sollte ich es schaffen. Die beiden anderen sind wahnsinnig. Werden im Kreis laufen und verrecken. Sind schon nicht mehr zu sehen. Nur noch der verbeulte Jeep. 

„Expeditions in the heart of the desert” stand auf dem Schild vor seinem schäbigen Büro. Im Hotel nannten sie ihn den verrückten Engländer, aber er war der einzige, der in Marzuq Wüstentouren anbot. Wir hatten uns im Hotel kennen gelernt, Dany, Adam und ich. Im letzten Augenblick kam noch dieser Stille dazu, dieser blasse Micha. Sah irgendwie kränklich aus. 

Beim Engländer hätte uns das aufgedunsene Gesicht warnen müssen. Aber die drei Klappspaten, griffbereit auf der Motorhaube befestigt, die haben uns geblendet. Hatte uns sein Satellitentelefon und das GPS-Navigationsgerät gezeigt, doch bei einem derartigen Abenteuer ist es das Archaische, das Handgreifliche, was den Reiz ausmacht. Er sagte, er kenne die Wüste wie seine Westentasche. Doch was nützt einer, der sich auskennt, wenn er verreckt. Waren den ganzen Tag durch Fels- und Sandwüste gefahren, als er plötzlich am Lenkrad zusammensackte. Wahrscheinlich Herzinfarkt. Der Jeep krachte gegen einen Felsbrocken und die Vorderachse brach. 

Zuerst waren wir bloß aufgeregt wegen des Engländers. Bis Adam fragte, wie wir alleine aus der Wüste rausfinden. Dany hielt das Satellitentelefon in die Höhe. Doch entweder hatte der Engländer vergessen, den Akku zu laden, oder es war schon lange kaputt. Da verlor Dany zum ersten Mal die Beherrschung. Knallte das Gerät gegen das Dach des Jeeps. „Verdammter Engländer! Fährt uns in die Wüste und krepiert dann einfach!“ 

„Wir haben Wasser und Nahrung für eine Woche", versuchte ich ihn zu beruhigen. "Bis dahin wird man uns schon finden.“ 

„Finden?“, schrie Dany. „Man wird uns frühestens in einer Woche vermissen und die schicken bestimmt nicht sofort nen Suchtrupp los, wenn wir nicht pünktlich auftauchen.“ 

Trotzdem blieben wir zunächst beim Jeep. Im Jeep waren die Zelte, die Nahrungsmittel, der Wasserkanister. Den Engländer begruben wir am nächsten Morgen. Mit den drei Klappspaten. Dany wurde bereits am ersten Tag ungeduldig. „Ich schau doch nicht tatenlos zu, wie das Wasser zur Neige geht.“ 

Auf den Karten des Engländers war Marzuq verzeichnet, aber wo befanden wir uns? Das Navi konnte uns nicht helfen. Danys Kamera hatte beim Unfall das Display zerschlagen. Dany und ich vermuteten unsere Position irgendwo südlich von Marzuq. 

„Aber am Vormittag“, sagte Adam, „hatten wir die Sonne lange im Rücken. Das heißt, wir sind nach Westen gef...“ 

„Schwachsinn!“, fuhr Dany ihn an. „Wir sind kreuz und quer durch die Felsen gefahren." 

Der Stille, dieser Micha, kommentierte unsere Überlegungen allenfalls mit einem Vielleicht ..., Könnte sein ... Gleich am ersten Abend hatte Dany mir zugeraunt: „Der Kleine wird keine Hilfe sein. Wenn der nicht noch durchdreht vor lauter Schiss.“ 

Das Warten zermürbte uns alle. Dany wollte losmarschieren. Nach Norden. Zurück nach Marzuq. Wir schätzten, dass wir höchstens achtzig Kilometer entfernt waren. In zwei bis drei Tagen dürfte das zu schaffen sein. Aber nur, wenn die Richtung genau stimmte. Ich plädierte dafür, auf das Gebirge am südöstlichen Horizont zuzugehen. Auf der Karte sind dort Berge eingezeichnet und eine kleine Stadt – Timimouri. Allenfalls sechzig Kilometer, wenn die Vermutung über unseren Standort richtig war. Vor allem trifft man garantiert die Straße, die parallel zu den Bergen verläuft. Doch Dany blieb stur bei seinem Norden. Deshalb zögerten wir. Auch, weil der Wasserkanister zu groß zum Tragen und der Vorrat an tragbaren Wasserflaschen begrenzt war. Vier Flaschen für jeden. Das war verdammt wenig. 

Am dritten Tag winselte Adam nur noch: „Ich will nicht sterben.“ Dany schrie ihn an und selbst ich gab ihm eine Ohrfeige, um ihn zur Besinnung zu bringen. Und dann das Misstrauen. Beim Pinkeln kam Dany zu mir. „Der Kleine kontrolliert ständig den Wasserkanister. Vier Flaschen sind dem zu wenig. Ich sag dir, der will sich heut Nacht mit allen Flaschen alleine verpissen.“ 

Adam hatte wieder Hoffnung geschöpft, seit er auf die Idee verfallen war, den Reifenspuren zu folgen. „Wir müssen einfach nur Umkehren. Die Spuren zurückverfolgen.“, wiederholte er unentwegt, mit sich überschlagender Stimme. Totale Schnapsidee! Der Wind hatte die Spur fast völlig verweht. Und Dany – wenn ich ihm Timimouri auf der Karte zeigte, stieß er mit dem Zeigefinger wie mit einem Dolch in die Karte und sagte: „Und wenn Adam doch Recht hat, dann befinden wir uns jetzt hier und bis zu deinen Bergen sind es fast zweihundert Kilometer.“ 

„Klugscheißer“, rief ich. „Die ganze Zeit heißt es, Adam redet nur Müll, – und jetzt sagst du, er könnte doch Recht haben.“ 

„Klar redet der Müll. Aber das mit dem Gebirge ist auch Müll. Vielleicht ist dein gigantisches Gebirge am Horizont nur eine kleine Hügelkette, die hier eingezeichnet ist. Oder hier, oder hier ...“ Dabei stieß er jedes Mal irgendwo in die Karte. „Gleich am ersten Tag hätten wir losgehen sollen, aber ihr – ihr wolltet warten.“ Er griff sich einen der Klappspaten und prügelte damit auf den Wagen ein. „Warten, Warten, Warten.“ 

Adam wimmerte und schaute hektisch im Kreis herum, bis sein Blick an Micha hängen blieb. „Micha, du bist doch auch dafür, dass wir den Reifenspuren ...“ 

„Ja genau, Micha“, fiel Dany dazwischen, „was ist mit dir? Sitzt da, als ginge ihn die Sache nichts an.“ 

„Ich habe Angst“, antwortete Micha. "Weil ich nicht weiß ...“ 

„Herrgott!“, rief Dany. Und mit nachäffender Stimme: „Ich weiß, dass ich nichts weiß. – Jetzt komm mir nicht mit Philosophie." Er packte Micha und schrie: „Niemand hier weiß es genau. Aber ich glaube, dass wir nach Norden gehen müssen. Adam glaubt an seine Reifenspuren und der da an sein Gebirge. Und jetzt will ich wissen, was du glaubst. Ich nehm dir nicht ab, dass du keinen Plan hast. Was, verdammt noch mal, glaubst du?“ 

Micha lächelte merkwürdig. „Ich hab mal einen Spruch gehört.“ 

„Was für ein Spruch?“, fragte Dany, ohne ihn loszulassen. 

„Jeder soll glauben, was er glaubt, aber keiner soll glauben, dass er besser glaubt.“ 

„Willst du mich verarschen mit deinen Sprüchen? Ich will wissen, was du vorhast?“ 

„Ich hab keinen besseren Plan“, sagte Micha. „Deshalb habe ich Angst. Wenn wir alle die gleiche Idee hätten ... Das würde uns gegenseitig Mut machen ...“ 

Adam sprang auf. „Hört ihr! Er will auch, dass wir zusammen bleiben. Micha, sag, dass wir den Reifenspuren folgen müss...“ 

„Die Spur ist kaum noch zu erkennen ...“ 

Adams Gesicht erstarrte. Dann prügelte er plötzlich mit beiden Fäusten wild auf Michas Oberkörper ein. „Hör auf mit deinem Ich weiß nicht. Wir werden alle verrecken, wenn du nicht ...“ 

Als es dämmerte, zündete Dany die Gaslampe an und sagte: „Ich geh morgen los – nach Norden.“ Er schnappte sich einen der Klappspaten und zeigte damit auf Micha. „Und du, Kleiner, bleibst heute Nacht schön liegen und rührst keine der Flaschen an.“ Dann legte er sich hin, den Spaten neben sich. 

Im Grunde glaubte ich nicht, dass Micha ... Viel eher traute ich das Dany selbst zu. Oder Adam. Seine hysterische Verzweiflung konnte schnell in brutalen Egoismus umschlagen. Ich spürte ja selbst in mir zunehmenden Hass aufkommen. Missgönnte jedem seine vier Flaschen. Und Micha? ... hätte doch genügt, sich einem von uns anzuschließen ... Ich legte mich schließlich neben die beiden anderen Klappspaten. Genau wie Adam. 

Und dann steht dieser Idiot tatsächlich mitten in der Nacht auf. Kaum war er hinter dem Wagen verschwunden, raunte Dany: „Was hab ich gesagt.“ 

Ich tastete nach den Flaschen, aber als Dany die Gaslampe aufdrehte, nach seinem Klappspaten griff, da erfasste auch mich Panik, und Wut. Eine grenzenlose Wut, die übermenschliche Kräfte verleiht. Zum Überleben braucht es manchmal diese Wut. Ich griff nach dem Klappspaten, Adam hatte seinen schon in der Hand und dann liefen wir ihm hinterher. Diese Wut ließ nicht nach, auch als er schon am Boden lag, mit offener Hose. „Erst noch pissen und dann mit dem ganzen Wasser abhauen, du Schwein!“, schrie Dany die ganze Zeit. Erst das viele Rot, dass der Sand begierig aufsog, besänftigte unsere Wut. 

 

Seit Stunden gehe ich auf das Gebirge vor mir zu. Dany und Adam sind schon lange nicht mehr zu sehen. Von der Wüste verschluckt. Wie der Jeep und die drei Klappspaten. Ich schaue nicht mehr zurück. Geh nur noch vorwärts. Ich glaube fest daran, dass dort die Rettung liegt. Ohne diesen Glauben könnte ich keinen einzigen weiteren Schritt tun. Jeder Zweifel bedeutet Zögern. Und Zögern bedeutet das Ende – hier in der Wüste. Deshalb muss ich glauben. Glaube felsenfest. 



Kinder, Kinder!

Leseprobe aus:
Sophia und die Hexe Vagabundis
       
(Roman für Kinder ab 8 Jahren)
Wie überlebe ich bloß die langweilige Predigt von Pastor Griesepötter?, fragte sich Sophia, als sich die Prozession der Festwiese vor dem Dorf näherte. 

Es war Pfingstsonntag des Jahres 1771 in dem kleinen Dorf Hintertannenrot. Alles war festlich geschmückt. Frische, grüne Birkenzweige und bunte Blumensträuße hingen überall an den mit Stroh gedeckten Häusern und Ställen. Alle Gänse und Hühner waren schon am Abend zuvor in die Ställe gesperrt worden, damit sie mit ihrem Geschnatter und Gegacker die feierliche Prozession nicht störten und selbst den Kuhmist und die Pferdeäpfel, die sonst ständig auf den sandigen Wegen herumlagen, hatten ein paar Knechte aufsammeln müssen. 

Vorneweg gingen zwei junge, starke Männer, die ein schweres, mit Blumen geschmücktes Holzkreuz trugen. Dahinter kam Pastor Griesepötter – wie immer schnaufend und schwitzend. Pastor Griesepötter war groß und hatte einen dicken, prallen Bauch. In seinem Gesicht dagegen wirkte wegen der dicken Backen alles irgendwie zusammengedrückt: die dünnen Lippen, die kleine Nase und die noch kleineren, immer streng blickenden Schweinsäuglein. 

Sophia hatte ihn noch nie lächeln gesehen und es war auch schwer vorstellbar, wo in diesem Gesicht ein Lächeln Platz haben sollte.

Leseprobe aus:
Skratschko & Patsch
   
  (Roman für Kinder ab 10 - und jung gebliebene Erwachsene)
 Ich bin einer der wenigen Menschen, die die beiden persönlich kannten. Skratschko und Patsch. Nicht, dass ich damit angeben will, ganz bestimmt nicht. Nein – wenn ich mich nun, im hohen Alter, entschlossen habe, mein Schweigegelübde zu brechen und ihre Geschichte niederzuschreiben, so einzig und allein, weil ich den Gedanken nicht ertragen kann, dass diese beiden und Skratschkos heldenhafte Taten in den endlosen Tiefen der Vergessenheit versinken. Auch wenn genau das ihr eigener Wille und der Grund für das Schweigegelübde war, das sie mir abnahmen, bevor sie von uns gingen. Vielleicht lade ich durch das Brechen dieses Gelübdes schwere Schuld auf mich – allein, ich kann nicht anders. 

Nein, ich kann nicht anders. Selbst die Angst vor Hohlscheins Rache, die mir dadurch unweigerlich droht, kann mich nicht mehr davon abhalten. Schon oft im Verlauf der letzten Jahre habe ich die Feder in die Hand genommen, doch kaum hatte ich die mit Tinte getränkte Spitze auf das stumme, weiße Blatt Papier gesetzt, fuhr mir die Angst vor Hohlschein wie ein eisiger Wind durch mein schlohweißes Haar und ließ meine Hand erstarren. Mehr als ein großer, schwarzer Fleck, der mir wie dunkelrotes Blut erschien, floss nie aus der Feder. Doch nun bin ich alt genug, dieser Angst zu trotzen. Mein Alter duldet keinen Aufschub mehr. 

 

Ich war damals elf Jahre alt. Es war einer jener warmen Frühlingstage, an denen man nach langem Bitten und Betteln zum ersten Mal im Jahr kurze Hosen anziehen durfte. Ich stromerte alleine durch den Wald, der direkt hinter unserem Haus begann. Natürlich hatte meine Mutter mir verboten, alleine in den Wald zu gehen. Ich könne mich verirren in dem dunklen Wald und man wisse nie, wer sich da so herumtreibe. Nicht, dass ich ein unerschrockenes oder einfach fantasieloses Kind gewesen wäre. Im Gegenteil – in unserer Klasse gehörte ich eher zu den Ängstlichen. Aber das Dunkle, Geheimnisvolle des Waldes hinter unserem gepflegten Einfamilienhaus mit dem löwenzahnfreien, englischen Rasen und den akkurat abgestochenen Blumenrabatten war stets stärker als meine Angst – zog mich magisch an. 

Meine Mutter ließ ich während meiner Streifzüge durch den Wald im Glauben, ich hätte mich in meinem Zimmer hinter meinen Büchern verkrochen. Sie hielt mich für einen fanatischen Bücherwurm und forderte mich immer wieder auf, doch lieber mit Karl-Jonas von nebenan zu spielen. Doch den fand ich langweilig. Entweder schaute er fern oder er wollte die ganz normalen Spiele spielen. Außerdem nannte er mich immer Lügner, wenn ich ihm die Geschichten aus den Büchern erzählte, die ich gerade las. 

An diesem Frühlingstag ging ich so tief in den Wald, wie ich es noch nie gewagt hatte. Obwohl mir immer unheimlicher zu Mute wurde, kämpfte ich mich wie unter Zwang durch eine dichte Fichtenschonung. Als der Fichtenwald sich urplötzlich öffnete und ich auf eine große, sonnenüberflutete Lichtung trat, stand ich unvermittelt vor den beiden. Hatte mir zwei Sekunden zuvor das Herz noch bis in die Ohren geschlagen, war ich in diesem Augenblick so verblüfft, dass ich nicht einmal erschrak. Auch sie waren wohl völlig überrascht, sonst hätten sie einen ihrer Tricks angewandt und wären sofort verschwunden. Sie kannten eine Menge Tricks, schließlich gehörten sie zu den Eigentlichen



Das Loch in der Brust oder Wie ich den 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf gegen Onkel Fritz verlor

 Meine Eltern wollten mit mir nie Mau-Mau spielen. Dabei macht mir nichts mehr Spaß als Mau-Mau-Spielen. Sie hatten nie Zeit dafür. Höchstens mal an Weihnachten oder Sylvester.

„Wenn du es unbedingt willst, mein Liebling“, sagte meine Mutter bei diesen Gelegenheiten, „dann spielen dein Vater und ich mit dir jetzt Mau-Mau.“

Viel Spaß machte das aber auch nicht. Denn wirklich Spaß macht es nur, wenn es allen Spaß macht. Wenn man es ernst spielt. So richtig eben, als ginge es um Leben und Tod oder sonst was ganz Wichtiges. Aber meine Eltern langweilten sich nur, guckten dauernd auf die Uhr und gähnten hinter vorgehaltener Hand. Und was das Schlimmste war: sie ließen mich ständig gewinnen. 

Auch als ich das Loch in der Brust hatte, spielten sie mit mir nie Mau-Mau. Dabei hatte ich sie mehrfach darum gebeten. Aber wahrscheinlich haben sie mir vor lauter Aufregung gar nicht zugehört. Vor Aufregung wegen des Loches, mein ich. 

Wie es zu dem Loch kam, weiß ich auch nicht. Irgendwann war es da. Links in der Brust, etwa da wo das Herz liegt. Es war faustgroß und ging glatt durch bis zum Rücken. Mit meiner rechten Hand konnte ich durchgreifen und mich am Rücken kratzen. Und wer sich vor mich stellte und sich etwas bückte, der konnte durch mich hindurch schauen. Natürlich nur, wenn ich oben nichts an hatte.

Als meine Mutter das Loch zum ersten Mal sah, wich sie entsetzt ein paar Schritte zurück, dann fiel sie in Ohnmacht. Nachdem sie wieder zu sich gekommen war, stürzte sie zum Telefon und rief meinen Vater an. Der organisierte dann alles Weitere von seinem Büro aus. Eine Viertelstunde später kam ein Rettungswagen mit Tatütata angebraust. Drei Notärzte, fünf Rettungssanitäter und vier Krankenschwestern stürzten in unser Haus, schnallten mich auf eine Trage, trugen mich in den Garten und schoben mich in den Rettungshubschrauber, der inzwischen dort gelandet war. 

Im Krankenhaus wurde ich stundenlang von oben bis unten untersucht, aber da die Ärzte außer dem Loch und einer etwas kühlen Körpertemperatur nichts Beunruhigendes feststellen konnten, wurde ich drei Tage später aus dem Krankenhaus entlassen. 

Meine Eltern gaben sich damit natürlich nicht zufrieden. Mein Vater setzte alle Hebel in Bewegung. Ich wurde von einem Spezialisten zum anderen geschickt. Aber alle schauten bloß ratlos durch mein Loch. Natürlich verschrieb trotzdem jeder irgendwelche Pillen, Salben, Massagen, Schlammpackungen und was weiß ich noch alles. 

Eine Zeit lang kümmerte meine Mutter sich ganz penibel um die Einhaltung der verschiedenen Behandlungspläne. Den ganzen Tag lief sie mit einem Wecker herum. Sobald dieser klingelte – und das tat er andauernd – schaute sie in einem großen Notizbuch nach, kramte aus einem großen Koffer eine Tablette und steckte sie mir in den Mund.

„So, mein Liebling, das ist die Fünf-Uhr-Tablette von Professor Huber. Die hilft ganz bestimmt.“

Aber irgendwann waren es so viele verschiedene Behandlungspläne und so viele verschiedene Pillen von so vielen verschiedenen Professoren, dass meine Mutter den Überblick verlor. Als ich dann auch noch – von der vielen Medizin war mir schlecht geworden – in den großen Koffer kotzte, gab sie auf. Jammernd lief sie davon, sperrte sich in ihrem Schlafzimmer ein und kam erst wieder raus, als mein Vater nach Hause kam und sie beruhigte. Sie sah sehr mitgenommen aus.

Sonntags darauf hatte mein Vater die ganze Verwandtschaft zusammengetrommelt. Alle waren ziemlich entsetzt von dem Loch in meiner Brust. Sie schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, schrien und redeten durcheinander oder liefen kopfschüttelnd im Zimmer herum. Da keiner einen Rat wusste, kümmerten sie sich schließlich um meine Mutter, die kurz vor einem Nervenzusammenbruch war.

Nur einer regte sich nicht auf über mein Loch. Onkel Fritz. Er meinte, das sei doch gar nicht schlimm. Solche Löcher kämen schon mal vor bei kleinen Jungs. Die anderen beruhigte das aber nicht im Geringsten. Sie hörten ihm gar nicht zu. Ich glaube, sie haben Onkel Fritz noch nie so ganz ernst genommen.

Als die anderen in den Garten gingen, um sich dort um die riesige Kuchentafel zu kümmern, fragte ich Onkel Fritz, ob er Mau-Mau spielen könne.

„Ob ich Mau-Mau spielen kann?“, rief Onkel Fritz, wobei er beide Arme hob und mich mit großen Augen anschaute. Er drehte sich zur Verandatür und rief in den Garten hinaus: „Der Knirps fragt mich doch tatsächlich, ob ich – ICH – Mau-Mau spielen kann!“

Er wandte sich wieder zu mir und sagte: „Ja weißt du denn nicht, dass ich der amtierende Weltmeister im Mau-Mau-Spielen bin? Seit sieben Jahren ungeschlagen.“

Ich war völlig baff. Davon hatte mir nie jemand erzählt. 

Eine Stunde später saß ich in Onkel Fritz’ Auto. Da meine Mutter wegen ihrer zerrütteten Nerven dringend Ruhe brauchte, waren meine Eltern Onkel Fritz dankbar, als er meinte, er könne sich ja mal meines Falles annehmen. 

Kaum waren wir bei ihm angekommen, setzte er sich an den Küchentisch, schob mit dem Arm das schmutzige Geschirr zur Seite, holte aus der Schublade Spielkarten und fing an, die Karten zu mischen.

„So Junge“, sagte er, wobei er die Karten im hohen Bogen von einer Hand in die andere springen ließ, „jetzt gibt es kein zurück mehr. Jetzt musst du zeigen, was du auf dem Kasten hast. Wir machen einen 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf.“

„Einen 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf?“, fragte ich verwundert.

„Allerdings! Für jedes gewonnene Spiel gibt es einen Punkt. Und in sieben Tagen um genau –”, er stand auf, holte eine große Uhr vom Schrank und stellte sie auf den Tisch, „– um genau fünfzehn Uhr zehn werden wir wissen, wer der Meister ist. Aber ich warne dich: ich kenne kein Pardon! Ha, ich werde dich platt machen wie eine Flunder.“

Er grinste mich an und verteilte die Karten. Und dann begann unser großer 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf. Wir spielten ununterbrochen. Nur zum Essen und zum Schlafen gab es Pausen von genau vorgeschriebener Länge. Und hin und wieder – wenn er ein Spiel gewonnen hatte – stand Onkel Fritz auf und deckte mit beiden Händen vorne und hinten mein Loch in der Brust zu.

„Damit der Wind nicht so dadurch pfeift und dir da drinnen alles auskühlt. Es reicht, wenn du bei diesem Spiel aus dem letzten Loch pfeifst.“

Dabei lachte er jedes Mal und ich entgegnete: „Freu dich nicht zu früh, Onkel Fritz. Du spielst zwar wirklich verdammt gut, aber noch sind die sieben Tage nicht vorbei.“

Wenn Onkel Fritz ein Spiel gewann, knallte er die letzte Karte mit der Faust auf den Tisch und schrie: „Na bitte, noch einen Punkt für Papas Besten!“

Verlor er ein Spiel, knurrte er mürrisch: „Mit den Dummen ist Gott. So viel Glück sollte verboten werden.“

Am siebten Tag, kurz nach fünfzehn Uhr stand es 516 zu 516. Der Schweiß lief uns beiden von der Stirn. Stumm blickten wir uns in die Augen. Die Zeit würde nur noch für ein Spiel reichen. Das entscheidende Spiel!

Ich teilte die Karten aus. Das Spiel lief sehr gut für mich. Bald hatte ich nur noch eine Karte auf der Hand, Onkel Fritz dagegen noch zwei.

„Jetzt siehst du ganz schön alt aus, Onkel Fritz“, sagte ich und grinste.

Aber ich hatte mich zu früh gefreut. Er grinste zurück und meinte: „Von wegen, alter Knabe“, und knallte eine Pik sieben auf den Tisch.

„Zieh erst mal zwei Karten, aber verschluck dich nicht dran.“

Das war das Aus für mich. Schon in der nächsten Runde konnte er seine letzte Karte ablegen. Er hatte den 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf gewonnen.

Er sprang auf, riss die Arme in die Luft und schrie: „Ha, Onkel Fritz ist und bleibt nun mal der Weltmeister!“

Dann klopfte er mir auf die Schulter und sagte: „Aber alle Achtung! Du warst ein großartiger Gegner. Es wäre keine Schande, gegen dich Grünschnabel zu verlieren.“

Kurze Zeit darauf sank ich völlig erschöpft ins Bett. Onkel Fritz kam noch mal zu mir und fragte mich, was eigentlich mein Loch in der Brust mache. In den letzten Tagen des Wettkampfes hatten wir es vor Aufregung ganz vergessen. Ich richtete mich auf und zog mein Nachthemd aus. Das Loch war nicht mehr da. Einfach weg. Bloß am Rücken konnte man noch eine leichte Eindellung spüren. Aber auch die verschwand nach ein paar Tagen.

 

So war das damals mit meinem Loch in der Brust. Und bis heute ist es mir nicht gelungen, im 7-Tage-Mau-Mau-Wettkampf gegen Onkel Fritz zu gewinnen. Onkel Fritz ist und bleibt der Meister.


Die große Ballonfahrt

 Mama wollte nur kurz etwas einkaufen. „Bin gleich wieder zurück“, sagte sie. „Und wehe, ihr macht den Fernseher an oder daddelt am Computer rum!“

„Was sollen wir denn sonst tun?“, stöhnte ich, aber statt mir zu antworten, rief sie beim Hinausgehen bloß noch: „Und pass bitte auf, dass Johann nicht wieder Unfug anstellt.“

Johann ist mein kleiner Bruder. Er kam mit seinem gasgefüllten Luftballon ins Wohnzimmer. Den hatte Mama ihm auf dem Markt gekauft.

„Lisa, wollen wir Ballonfahrer spielen?“

„Keinen Bock auf deinen Kinderkram“, sagte ich genervt.

„Aber hilf mir wenigstens mal, die beiden Sessel zu verschieben. Für einen Ballonflug braucht man einen großen Korb, in dem man stehen kann.“

Weil ich weiß, wie hartnäckig mein kleiner Bruder sein kann, half ich ihm, den kleinen Tisch vor dem Sofa zur Seite zu stellen und die beiden Sessel so an das Sofa zu schieben, dass alles zusammen wie ein riesiger Korb aussah. Also, dass heißt, bis er fand, dass es wie ein riesiger Korb aussah.

„Wir brauchen noch einen Gasbrenner“, sagte Johann.

„Einen Gasbrenner?“

„Na klar, der Gasbrenner macht die Luft im Ballon heiß und die heiße Luft macht, dass der Ballon in die Luft steigt.“ Er sprang vom Sofa. „Die Lampe ist ein prima Gasbrenner.“

Er holte die Leselampe, die in der Ecke stand und stellte sie zwischen Sofa und Sessel. Zum Anschalten hing vom Lampenschirm eine Strippe herab, an der man ziehen musste. Johann zog an der Strippe und machte ein lautes Zischgeräusch dazu. Er streckte die Faust mit hochgehobenem Daumen aus und sagte: „Funktioniert noch tadellos, der Gasbrenner.“

Ich verdrehte die Augen. „Dein Gasbrenner kann gar nicht funktionieren, du Dummkopf! Ein Gasbrenner braucht eine Gasflasche, so wie Papas Campingkocher“.

Einen Moment lang stand er mit offenem Mund in seinem Ballonfahrerkorb. Dann strahlte er plötzlich übers ganze Gesicht. „Stimmt!“, rief er. „Aber viel größer. Da – die großen Vasen!“

Damit nicht noch ein Unglück passiert, wuchtete ich für ihn die zwei Vasen, die rechts und links des Fensters auf dem Boden standen, über das Sofa und stellte sie neben seinen Gasbrenner – also die Lampe, meine ich. 

„Jetzt kann ’s losgehen“, sagte Johann und ließ den Gasbrenner laut zischen. Plötzlich rief er: „Halt! In einem Ballon braucht man ein Fernrohr.“ Er sprang über den Sessel und holte aus dem Schrank Papas Fernglas.

„Beeil dich! Der Korb hebt gleich ab“, rief ich, um ihn zu ärgern. „Du hast vergessen, ihn festzubinden.“ 

„Scheiße!“, rief Johann, drehte sich um machte einen riesigen Hechtsprung zum Sessel. Bloß mit den Händen hielt er sich an der Armlehne fest und schrie, weil der Korb angeblich schon mindestens zehn Meter über dem Boden schwebe. Als ginge es fast über seine Kräfte, zog er sich mühsam hoch und ließ sich in den Sessel rollen. Ich schüttelte bloß den Kopf.

„Das war ganz schön knapp“, sagte er und japste nach Luft. Dann begann er ein paar Sandsäcke – das waren für ihn die Sofakissen – über Bord zu werfen, um, wie er sagte, schneller an Höhe gewinnen.

Nachdem er drei Sandsäcke abgeworfen hatte, war mir plötzlich, als finge der Boden an, leicht hin und her zu schwanken. Ich schaute zu Johann. Der öffnete seinen Mund und zeigte zum Fenster.

„Da ...“, stammelte er.

Die Bäume und die Straßenlaterne vor dem Wohnzimmerfenster schienen ebenfalls hin und her zu schwanken. Johann sprang aus seinem Korb und beide stürzten wir zum Fenster. 

Es war kaum zu glauben: Unser Haus begann, sich von der Erde zu lösen. Wir lehnten uns aus dem Fenster und schauten zum Dach hoch. Über dem Dach war ein riesiger Ballon, der mit Seilen am Haus befestigt war. Das Haus stieg höher und höher. Bald konnten wir über die ganze Stadt blicken. Rechts war der Supermarkt zu sehen, in dem Mama gerade einkaufen war. 

Plötzlich kam ein kräftiger Wind auf und ließ das Haus so stark schaukeln, dass die Bücher aus dem Regal flogen. Johann fiel hin und rutschte auf dem Boden zur gegenüberliegenden Wand. Als er dort aus dem Fenster guckte, rief er entsetzt: „Der Donnerberg! Der Wind treibt uns direkt auf den Donnerberg zu. Wir müssen sofort an Höhe gewinnen.“

Auf allen Vieren krabbelte er zu den Sesseln und zog wie ein Verrückter am Gasbrenner. Es zischte und zischte. „Lisa“, schrie er so laut er konnte, um das Zischen des Gasbrenners zu übertönen, „du musst alle Sandsäcke abwerfen. Wir müssen schneller steigen. Sonst knallen wir gegen den Berg.“

Ohne lange zu überlegen, öffnete ich das Fenster sperrangelweit, stürzte zum Sofa und warf in Windeseile alle Kissen zum Fenster raus. „Das reicht nicht“, rief ich, „die Kissen sind zu leicht. Wir gewinnen kaum an Höhe.“

„Dann nimm die Bücher. Die haben Mama und Papa eh schon alle gelesen. Wir müssen das Haus leichter machen, sonst sind wir verloren.“

In hohem Bogen schleuderte ich ein Buch nach dem anderen durch das Fenster.

„Ja, gut so! Jetzt steigen wir viel schneller“, rief Johann. „Vielleicht schaffen wir ’s. Noch ein paar Bücher.“

Wir hatten Glück. Kurz bevor der Wind das Haus gegen die Bergwand drücken konnte, glitten wir über den Gipfel hinweg. So knapp, dass wir vom Fenster aus das Gras auf dem Gipfel hätten pflücken können. Die Fahrt wurde jetzt ruhiger und der Blick war fantastisch. Wie eine Spielzeuglandschaft lag die Welt weit unter uns. Doch wir konnten die Aussicht nicht lange genießen. Johann tippte mir auf die Schulter.

 „Schau mal! Dort fliegt ein Vogelschwarm auf uns zu.“ Er hob das Fernglas an die Augen. „Ey, das sind Störche, richtige Störche. Die kommen bestimmt gerade aus Afrika zurück.“

„Zeig mal“, sagte ich. Johann gab mir das Fernglas. „Das ist ja verrückt. Sieht aus, als ob die alle schlafen. Die haben die Augen geschlossen.“

„Na ist doch klar“, sagte Johann und tat, als wüsste er wieder einmal alles. „Auf ihrem langen Flug von Afrika müssen sie auch mal schlafen und da sie den Weg auswendig kennen, schlafen sie eben beim Fliegen.“

„Ich kenn meinen Weg zur Schule auch auswendig und trotzdem kann ich beim Gehen nicht schlafen.“

„Du bist ja auch kein Storch“, antwortete Johann.

Johann muss immer das letzte Wort haben, selbst wenn er dann totalen Blödsinn redet.

„Wenn die nicht langsam abdrehen“, sagte ich, „spießen sie gleich mit ihren spitzen Schnäbeln unseren Ballon auf“.

„Ach Quatsch, Lisa. Die werden schon nicht so blöd sein.“

Sie waren aber so blöd. Wir hörten ein lautes „Rrrrrrtsch“, gefolgt von einem dumpfen Zischen. Zuerst tat sich nichts, aber dann merkten wir, dass wir an Höhe verloren. Zuerst ganz langsam, aber dann immer schneller.

„Ich glaube, jetzt sollten wir doch besser landen“, sagte ich und fasste Johanns Hand.

„Ja“, antwortete Johann, „aber wenn wir weiter so schnell sinken, gibt es eine Bruchlandung. Wir werden uns sämtliche Knochen brechen.“

Er lief zum Gasbrenner und ließ ihn kräftig zischen.

„Das Loch ist zu groß“, rief ich. „Der Gasbrenner alleine kann den Fall nicht bremsen. Wir müssen wieder Ballast abwerfen, Johann!“

„Vielleicht den Fernseher. Der hat ein ordentliches Gewicht.“

„Aber wir wollten doch heute Abend den Trickfilm sehen“, antwortete ich.

„Stimmt“, sagte er, „dann eben – den kleinen Tisch hier.“

Aber auch als ich den Tisch rausgeschmissen hatte, sanken wir kaum langsamer. Ich schnappte nun alles, was ich alleine tragen konnte und warf es raus. Zuerst Kerzenständer, Blumentöpfe, eine Standuhr, dann die Stühle und das Porzellan aus dem Vitrinenschrank. Die Schubladen des Wohnzimmerschrankes nahm ich als Ganzes und warf sie samt Inhalt hinaus.

„Gut so, Lisa“, rief Johann, „wir fallen schon langsamer.“

Ich schaute aus dem Fenster. Der Gipfel des Donnerberges lag wieder über uns und unten in der Stadt konnte man schon einzelne Straßen erkennen.

„Ich kann unseren Garten sehen“, rief ich. „Wenn der Wind uns noch ein kleines Stück nach rechts treibt, landen wir genau richtig.“

Da schrie Johann: „Lisa! Ich glaube, der Gasbrenner gibt seinen Geist auf.“

Ich sprang zu ihm und gemeinsam zogen wir wie verrückt an der Strippe des Gasbrenners. Aber statt eines lauten Zischens war nur noch ein stotterndes „Tsch – tsch tsch – – tsch“ zu hören – dann erlosch der Gasbrenner.

Johann klopfte gegen die beiden Gastanks. „Das Gas ist alle.“

„Wie sollen wir jetzt bremsen?“

Wir schmissen die Gastanks aus dem Fenster, aber das brachte nicht viel. Das Haus fiel zu schnell. Die Bäume unter uns wurden immer größer. Wir hatten nicht mehr viel Zeit. Bald würde das Haus auf der Erde zerschellen und wir unter den Trümmern begraben werden. Johann und ich, wir schauten uns an. Dann schauten wir im gleichen Augenblick zum Fernseher. Dann schauten wir uns wieder an und nickten beide stumm. Uns war klar, dass wir auf den Trickfilm am Abend keine Rücksicht mehr nehmen konnten.

Wir schoben den Fernseher zum Fenster. Einer rechts, einer links packten wir ihn an und versuchten ihn hoch zu heben. Mit allerletzter Kraft gelang es uns, ihn über das Fensterbrett zu wuchten und rauszukippen. Das war unsere Rettung. Auf einen Schlag fiel das Haus viel langsamer. Es war ein Gefühl im Bauch wie in einem Fahrstuhl, der plötzlich abbremst. Schon im nächsten Augenblick gab es einen kräftigen Stoß, wir fielen zu Boden und alles im Haus wackelte. Dann war es still. – Das Haus war gelandet.

Wir rappelten uns auf und schauten aus dem Fenster. Das Haus stand exakt an der Stelle, an der es vorher gestanden hatte. Als wir nach draußen in den Garten gingen, sahen wir gerade noch, wie sich das letzte Seil, an dem der Ballon noch hing, vom Dach löste. Da der Ballon jetzt keine Last mehr zu tragen hatte, stieg er, obwohl er nur noch halb gefüllt war, sehr schnell in den Himmel und war bald nicht mehr zu sehen.

Etwas betreten standen wir neben dem Fernseher und den anderen Sachen, die zertrümmert vor dem Wohnzimmerfenster lagen.

„Was wird Mama sagen, wenn sie das sieht?“, fragte ich.

„Ach was“, sagte Johann, „wenn wir ihr erzählen, was passiert ist, wird sie heilfroh sein, dass wir die Ballonfahrt überlebt haben.“

Ich hoffe, er hat Recht.

 

Sanchari, das Mädchen hinterm Baum 

 Eines Tages stand sie in der langen, dunklen Allee. Die Ahornbäume stehen dort in zwei langen Reihen dicht an dicht und lassen ihre Blätter tief herabhängen. Ein endlos langer finsterer Tunnel. Und ich muss da durch gehen. Jeden Tag. Es gibt keinen anderen Weg zur Schule. Und jeden Tag bekomme ich Herzklopfen, wenn ich da durch gehen muss. Meist gehe ich ganz schnell durch die Allee und schau ganz steif auf meine Schuhe, um bloß nichts zu sehen in den dunkelgrünen Schatten um mich herum. 

Deshalb hätte ich sie gar nicht bemerkt, wenn nicht plötzlich jemand „Sanchari“ gerufen hätte. Erschrocken fuhr ich herum, doch ich sah nur noch, wie sie schnell durch die Büsche davonhuschte. 

Viel gesehen habe ich eigentlich nicht. Aber ihre Haare, die sind mir aufgefallen. Flammend rot und wild zerzaust waren die. Und ihr Kleid bestand aus lauter Flicken. Niemand in meiner Klasse hat so rote Haare. Und so ein schäbiges Kleid habe ich auch noch nie gesehen. 

Und dann vor allem dieser Name! Sanchari. So heißt hier niemand. 

Ich drehte mich um und ging rasch weiter. 

 

Am nächsten Morgen stand diese Sanchari wieder in der dunklen Allee. Hinter demselben Baum. Diesmal sah ich ihre Augen. Sie streckte den Kopf aus dem Schatten des Baumes hervor und verfolgte mich mit einem bösen Blick. Die ganze Zeit, während ich vorüberging. Das spürte ich. 

Ihre Augen waren zum Fürchten. Ganz schwarz, mit einem grünen Funkeln. Ich habe noch nie so schwarze Augen gesehen. 

Auf einmal rümpfte sie die Nase. Diese Nase unter diesen pechschwarzen Augen. „Warum rümpft sie so widerlich die Nase?“, dachte ich. 

Die Nase war riesengroß, rot und so stark gebogen, dass die Nasenspitze fast den Mund berührte. Solch eine Nase kannte ich nur von den bösen Hexen aus meinem Märchenbuch. 

Mein Herz wummerte wie doof und ich stolperte fast, als ich weiterging. 

 

Tags darauf sah ich Sanchari schon von weitem. Sie beobachtete mich. Als ich an ihr vorbeiging, fing sie plötzlich laut an zu knurren. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. 

Dieses Knurren, die krumme Hexennase, die pechschwarzen Augen inmitten der feuerroten Mähne. Wie ein Raubtier auf der Jagd sah sie aus. 

Ich war mir sicher: „Die hat es auf mich abgesehen.“ 

Und dann zog sie auch noch ganz langsam die Oberlippe hoch und zeigte mir ihre Zähne. Sie blitzten in der Sonne. Unbeschreiblich groß waren sie und messerscharf. Wie bei einem fletschenden Wolf. 

Fast wäre ich schreiend losgelaufen, doch ich beherrschte mich und ging zitternd an ihr vorbei. 

 

Am nächsten Morgen wollte ich den ganzen Weg durch die Allee nur auf den Boden schauen. Ich wollte Sanchari nicht ansehen. Nicht ihre Tigerzähne, nicht ihre Hexennase, nicht ihre Augen. 

„Warum lauert die mir jeden Tag auf?“, fragte ich mich. „Warum ausgerechnet mir?“ 

Diesmal sah ich zwar nicht ihr Gesicht, dafür aber etwas anderes, das mich erschauern ließ. Ihre lange Kette mit einem großen, seltsamen Anhänger. Ein merkwürdiges Zeichen mit spitzen Zacken. Noch nie in meinem Leben hatte ich so einen Anhänger gesehen. „Ein geheimes Hexenzeichen!“, schoss es mir durch den Kopf. 

Meine Hände begannen zu schwitzen und meine Knie wurden ganz weich. Doch gelang es mir irgendwie weiterzugehen. 

 

Am nächsten Tag zitterte ich bereits, als ich in die Allee einbog. Sanchari stand wieder hinter ihrem Baum. Ich starrte auf den Boden. Diesmal wollte ich nicht mal ihre Füße ansehen. Doch als ich auf ihrer Höhe war, blitzte etwas in der Sonne. 

Ich fuhr erschrocken hoch und da sah ich einen kleinen, silbernen Dolch in ihrer Hand. Vor Schreck stolperte ich über einen Stein und schlug mir das Knie auf. Doch ich spürte keinen Schmerz. Ich dachte bloß: „Die will mich ausrauben! Die will mir an die Kehle mit dem Messer!“ 

Ich sprang auf und ohne mich noch einmal umzudrehen rannte ich fort. Ich rannte und rannte. So schnell wie ich nur konnte. 

 

Am nächsten Morgen war Sanchari – weg. Sie stand nicht hinter ihrem Baum und auch nicht hinter einem der anderen Bäume. Sie war nirgends. Einfach weg. 

Ich atmete auf und ging erleichtert weiter. Als ich an ihrem Baum vorbeikam, wagte ich es sogar, hinter diesen zu schauen. Aber dort war nichts. Kein Zeichen, das sie in die Rinde geritzt hätte. Keine verlorene Kette. Kein Bonbonpapier. Nicht einmal Fußspuren. 

Als wäre sie nie da gewesen. 

 

Auch am Tag darauf war Sanchari nicht da. Bei ihrem Baum blieb ich stehen und schaute in den Wald dahinter. Aber es war nichts zu sehen. Keine weißen Zähne. Kein leuchtendes Rot. Auch kein Aufblitzen ihres Dolches. 

Das Einzige, was in der Sonne schwach blinkte, war der Ring an meinem Finger. 

„Hm“, dachte ich, „vielleicht ist es ja gar kein Dolch gewesen. Vielleicht war es ja bloß ein Ring oder vielleicht ein Armreif, den diese Sanchari getragen hat. Ich habe ja nur ganz kurz hingeguckt. Vielleicht …“ 

 

Am nächsten Morgen war Sanchari auch nicht da. Als ich an ihrem Baum vorbeiging, juckte es mich am Hals. Ich kratzte mich und spürte meine Kette. Meine Lieblingskette, die ich zu meinem Geburtstag bekommen hatte. Der Anhänger ist ein silbernes Herzchen, auf dem ganz klein mein Name steht. 

„Eigentlich langweilig“, fand ich nun, „immer diese Herzchen und Sternchen und Blümchen. Da war der seltsame Anhänger von dieser Sanchari schon was anderes. Zwar irgendwie unheimlich, aber dafür was ganz Besonderes. Da würden die anderen große Augen machen. Vielleicht finde ich ja mal in einem Schmuckladen so einen Anhänger. Vielleicht ...“ 

 

Einen Tag später war Sanchari auch nicht da. Als ich an ihrem Baum vorbeiging, gluckerte es in meinem Bauch. Ich hatte beim Aufstehen getrödelt und deshalb nichts mehr frühstücken können. Jetzt hatte ich Hunger. 

„Vielleicht“, dachte ich, „hat Sanchari mich ja gar nicht angeknurrt. Vielleicht hat bei ihr auch nur der Magen geknurrt. Vielleicht hat sie einfach bloß Hunger gehabt. Sehr dünn war sie ja.“ 

Da musste ich auf einmal leise lachen. Über mich selbst. Weil ich vor einem Mädchen solche Angst gehabt hatte. 

„Vielleicht“, ging es mir da durch den Kopf, „hat Sanchari mich gar nicht angefletscht mit ihren Zähnen. Vielleicht hat sie nur versucht zu lächeln. Auf jeden Fall waren ihre Zähne bestimmt nicht größer als meine. Ja, vielleicht hat sie wirklich gelächelt. Vielleicht ...“ 

 

Auch am nächsten Morgen war Sanchari nicht da. Als ich an ihrem Baum vorbeiging, kitzelte es mich in der Nase und ich musste niesen. Da ich kein Taschentuch hatte, musste ich anschließend ständig die Nase hochziehen. 

„Ist genauso, als würde ich die Nase rümpfen“, dachte ich. „Vielleicht hat Sanchari ja gar nicht die Nase gerümpft. Vielleicht hat sie bloß geschnieft. Vielleicht hat sie Schnupfen. Wahrscheinlich war ihre Nase deshalb so rot. Na ja, und gebogen war sie höchstens ein bisschen. Vielleicht wollte sie ein Taschentuch von mir.“ 

Als ich weitergehen wollte, flog mir eine Fliege ins Auge. Das Auge fing an zu tränen. Ich rieb so lange daran, bis die Fliege draußen war. 

Dabei musste ich an Sancharis schwarze Augen denken. Und an ihren Blick, mit dem sie mich verfolgt hatte. In der Erinnerung fand ich ihre dunklen Augen gar nicht mehr zum Fürchten. 

„Vielleicht“, dachte ich, „war ihr Blick überhaupt nicht böse, sondern eher – traurig. Vielleicht ...“ 

 

Den nächsten Tag war Sanchari auch nicht da. Ob sie nie wieder kommt? Als ich an ihrem Baum vorbeiging, wehte mir plötzlich der Wind die Haare ins Gesicht. Ich habe einfach nur braune Haare. Wie die meisten in meiner Klasse. Irgendwie fand ich braun auf einmal langweilig. 

„Die leuchtend roten Haare von Sanchari“, dachte ich, „die sehen dagegen viel lustiger aus. Warum hat sie so traurig geguckt? Vielleicht hat sie Angst vor mir und versteckt sich irgendwo im Gebüsch.“ 

Ich blieb stehen und rief ganz leise ihren Namen: „Sanchari ...?“ 

 

Am nächsten Morgen war Sanchari auch nicht da. „Schade“, dachte ich, „wahrscheinlich sehe ich sie nie wieder.“ 

Aber als ich an ihrem Baum vorbeiging, rief ich nach allen Seiten ganz laut: „Sanchari! Sanchari!“ 

Es kam keine Antwort. Auch nicht an den nächsten Tagen. Aber immer noch laufe ich jeden Morgen zu ihrem Baum und rufe ihren Namen. Diesen hübschen Namen. Sanchari. 

Vielleicht steht sie ja eines Tages wieder da. Wenn sie einmal wieder da steht, werde ich sie ansprechen. Vielleicht werden wir richtig gute Freunde. Vielleicht ... 

 

Kniereiters Höllenfahrt ohn’ Ende

 

Ihr alle kennt dies Lied:

 

„Hoppe, hoppe Reiter

wenn er fällt, dann..." – und so weiter

"Fällt er in den Sumpf 

macht der Reiter plumps.“

 

Doch wie kann das Lied nur enden dort

wo im Grunde alles erst beginnt?

Denn wenn man mutig sich besinnt,

ist pralle Welt am Sumpfesort. 

 

Sein Blick, der war gewiss nicht dumpf –

ich mein den Reiter, der da fiel.

Nein, nein, er traf genau sein Ziel.

Mit Absicht hupft’ er in den Sumpf.

 

Ihr wollt wissen, was geschah?

Er fand es schön, ja zum Enzücken,

in neue Welten konnt’ er blicken.

Ich erzähl’s euch – kommt ganz nah:

 

Zunächst kann er nur fühlen, wie munkelnde Unken schunkeln in dieses Sumpfes Dunkel.

Es schmatzt und schwatzt und garstig lacht’s in dieser schwarzen Nacht,

als er hastend durch saftenden, haftenden Matsch hinab nun watet,

wobei grappschende, klatschende Maden wabernd ihn belabern.

Und schlotternd stolpert er durch rot lodernden, brodelnden Moder

und im Innern wimmernd sieht er in der Tiefe giftig riechende Viecher.

Da steigt Rauch aus eines faulenden Gaules Maul 
und hinab taucht er sausend in einen rauchenden,  fauchenden Schlauch

hinab durch schäumend sich bäumende Räume voll heulender Eulen

und – und landet weich in keimigem, leimigem Schleim mit seinem Bein.

 

Und da! Da sieht er sie stehen im Rund.

Sie grölen, ächzen, einige zischen,

sie tanzen mit dreibeinigen Fischen

die grausigen Sechs im Höllenschlund.

 

Der Grolch, den einst der rote Molch erdolcht.

Der Zilch, der Knilch, der kocht die Silbenmilch.

Der Knackel mit dem sagenhaften Wackeldackel.

Die Melex, die kecke Hex’, hat am Po der Zecken sechs

und glühende Gurken schlürft der Schlurgel mit blutend wunder Gurgel,

indes auf seinem Kugeldudelsack spielt der glucksende Glugelzack

eine krause Melodei – gack, gack

 

Doch müsst ihr euch nicht ängstigen.

Der Reiter, der lachte sich schief und krumm:

„Ich bleibe hier – bin doch nicht dumm!

Die Mutter wird sich schon besänftigen.“

 

Drum: falls ihr jemals wieder reitet

auf irgendwelchen Tantens Knie,

lasst fallen euch mit Phantasie

und eine neue Welt wird euch bereitet

(falls ihr nicht allzu zartbesaitet).

Der Marienkäfer

 

Fest entschlossen war

ein kleiner Marienkäfer,

sein Geld sich zu verdienen

in Zukunft als ein Schäfer.

 

Ging und lernte in

der Lüneburger Heide

so richtig offiziell

was Schaf, was Bock, was Weide.

 

„Ich bin jetzt ein Schäfer!“

so brüllt er an zehn Schafe.

„Ihr macht dort drüben Rast

und legt euch sofort schlafen!“

 

Streng und grimmig blickt er

den Schafen ins Gesicht.

Doch die geh’n einfach weiter.

Das kommt, sie seh’n ihn nicht.

 

Ach, es ist am Ende

hier Hopfen und Malz verloren.
Ein Käfer ist wohl doch

zum Schäfer nicht geboren.


 

Das Nashorn auf der Kirchturmspitze 

 

Ein Nashorn, sitzend auf der Kirchturmspitze, 

erzählte Kühen irre Witze. 

Doch die hingegen, ganz verstockt, 

haben glotzend bloß sich hingehockt. 

 

„Was? Ihr wollt partout nicht lachen? 

Muss ich das denn auch noch machen? 

Wenn ihr dumm seid wie die Kälber, 

lache ich halt selber!“ 

 

Das Nashorn kichert leis‘ „Hi hi“, 

da fällt es plötzlich – irgendwie. 

Im Fall noch lacht es laut „Ho ho“ 

und landet unsanft auf dem Po. 

 

Es schlich sich weg, ganz schamesrot, 

überließ die Kühe ihrer Not. 

Die grübeln heute noch im Schneidersitze: 

„Wie kam das Nashorn auf die Kirchturmspitze?“ 


 

Der Schneemann 

 

Ein großer, dicker Schneemann 

der wollte werden Seemann. 

Doch als er fuhr zur See dann, 

verfing er sich im Seetang. 

Wurd’ nimmer mehr geseh’n dann.